Ulrike Kleinert - Der Krieg in den Kindern (gedicht des Tages am 9. November)
Hördatei:
Der Krieg in den Kindern
Eines Tages erreichte der Krieg Deutschland.
Er kam nicht mit Gewehren,
Granaten und Soldaten.
Er kam schlafend
auf dem Arm einer Mutter,
als Säugling.
Er schrie laut,
war hungrig und fror.
Neue Papiere bekam der Vater,
nur einen Staat nicht,
der sie alle nimmt
als seine Bürger.
Was soll ein Krieg
mit Staat und Papier?
Der Krieg will nur
den Krieg.
Das Kind wuchs.
Der Krieg wuchs auch
in Nächten,
in denen er die Träume durchzog.
Der Krieg kerbte die Gesichter
und betäubte die Gedanken.
Die Wohnungen wurden eng und enger,
und wechselten.
Der Krieg zog mit.
Er ließ die Mutter früh altern,
machte dem Vater,
der früher Gemüse verkauft hatte
zwischen seinen lauten Fronten,
die Zeit lang und leer
und den Geschwistern
stahl er die Zukunft.
Eine Tages kroch der Krieg
in die Hand des Kindes
und griff nach einem Apfel,
der hing an einem Baum
in einem deutschen Kleingarten,
und er schmeckte süß
und so gar nicht nach Krieg.
Dann schnitt sich die kleine Hand
ein Loch in den Zaun,
wie der große Bruder
in die Zäune geschnitten hatte,
an den Heckenschützen vorbei
und Wege ausgetreten
im Niemandsland im Libanon,
und der kleine trat auch
mitten ins Kleingartengebiet.
Empört schwangen die Parzellisten
ihre Harken und Schaufeln,
und der Krieg kicherte aus dem Kind.
Das holte alle Brüder
und die Kinder waren stark miteinander
und schnell und laut.
Sie kannten nicht Weg und nicht Zaun
und nicht Hecke.
Nur Linien, Lebenslinien,
krumm und eng,
und wie man anderen Angst macht,
kannten sie auch.
Als sie an die Gartenzwerge gingen
und sie in die Luft warfen,
zerbrach der Friede endgültig.
Wie gern hätten die Kleingärtner
die Zäune gerächt und die Äpfel
und die Gartenzwerge.
Gewehre
lagen ihnen schon
auf der Zunge.