Xenia Storms - Das verwünschte Dorf (Jugendliche melden sich zu Wort am 20. Oktober)

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Das verwünschte Dorf

Es war einmal vor langer Zeit, ja, ich würde sogar sagen vor sehr langer Zeit, da gab es einmal ein kleines Dorf. Dieses Dorf befand sich in einem Mär-chenwald zwischen Emscher und Ruhr. Viele nann-ten das Dorf ‚das Dorf der bösen Geister’, doch ich will es lieber ‚das verwünschte Dorf’ nennen. Ihr könnt auch selbst einen Namen aussuchen, doch hört euch das Märchen erst an, bevor ihr euch ent-scheidet, wie ihr es nennen wollt. Also, vor unge-fähr 500 Jahren war ich mal in dem kleinen Dorf. Es war ein ziemlich seltsames Dorf. Ich denke sogar, eines der verrücktesten im ganzen Umkreis von Emscher und Ruhr. Viele Menschen erzählten sich schreckliche Geschichten über dieses Dorf. Aus die-sem Grund wollte es auch niemand aus dem Um-land betreten. Man sagte, es läge ein Fluch auf ihm. Wie es zu diesen Gerüchten kam, das will ich euch nun erzählen:
Es lebte dort eine wunderschöne Frau. Marietta war ihr Name. Sie wurde von allen Männern bewundert und gefeiert, und selbst von den neidischen Frauen des Dorfes wurde sie geachtet. Doch es war nicht nur ihre Schönheit, die ihr die Männer zu Füßen fallen ließ. Marietta war eher eine intelligente und weise Frau mit außerordentlichen Fähigkeiten. Sie hatte die sonderbare Gabe, alle Menschen um sich herum zu verzaubern. Wenn sie jemanden ansah, strahlten ihre Augen eine solche Liebe aus, dass sogar Menschen aus fernen Ländern in das kleine Dorf zwischen Emscher und Ruhr fuhren, nur um sich einmal von ihr in die Augen blicken zu lassen.
Und so trug es sich zu, dass eine Tages wieder mal eine reiche Königsfamilie aus einem fernen Land zu der ‚göttlichen’ Marietta, wie sie oft genannt wurde, fuhr, um sich von ihr Liebe schenken zu lassen. Die Königsfamilie war recht groß. Sie bestand aus dem König, der Königin und sieben mehr oder weniger hübschen Töchtern. Jede der Töchter sollte sich in der nächsten Zeit vermählen, doch wollte kein Mann um ihre Hand anhalten. Aus Verzweiflung darüber suchten sie das kleine Dorf auf und baten um einen Blick Mariettas auf jede der Töchter. Der König hatte sich nämlich sagen lassen, dass sie mit ihren Blicken der Liebe die Schönheit eines jeden Menschen zum Vorschein bringen würde. Und dies sollte auch mit seinen geliebten Töchtern gesche-hen. Nun, man muss zugeben, dass die Mädchen eigentlich außerordentlich hässlich waren und auch nicht viel von Hygiene hielten, ja selbst das Zähne-putzen verabscheuten. – Welche Folgen das hatte, darüber möchte ich hier allerdings schweigen. – Wie dem auch sei: Als die Königsfamilie endlich mit viel Wirbel in dem kleinen Dorf ankam, bat sie um einen Besuch in Mariettas einfachem und beschei-denem Häuschen. Die Königstöchter waren alle-samt ziemlich abgeneigt und hatten auch wenig Lust, sich dort auch nur ein wenig aufzuhalten; doch wurde ihnen vieles versprochen (unter ande-rem Unmengen an Schokolade und anderem Süß-kram!), dass sie sich zum Bleiben entschieden und missmutig in einer Ecke hockten. Sie waren ziem-lich verwöhnt, und das bedeutete trotz der verspro-chenen Schokolade ein ziemliches Rumgenörgele, welches aber verstummte, als Marietta die kleine Stube betrat. Sie hatte ein schönes langes Kleid an, welches sie selbst genäht hatte, nachdem sie ihren ersten Sohn geboren hatte. Sie hatte insgesamt sechs Jungen – was keineswegs ungewöhnlich war –, welche allesamt ziemlich hübsche Burschen wa-ren. Sie sagte immer mit vollem Stolz, dass sie ih-rem Vater ähnlich seien, ja, dass sie ihm aus dem Gesicht geschnitten seien, wobei jeder trotzdem ganz anders war und aussah als die anderen. Zu-rück zu der Begegnung von Marietta mit der Kö-nigsfamilie.
Als Marietta also den Raum betrat und die Familie sah, strahlte sie sie allesamt mit dem schönsten Lächeln an, welches ich je gesehen habe. Alle im Raum waren sofort wie von Sinnen und starrten sie an. Langsam ging sie auf jeden Einzelnen zu und blickte ihm in die Augen. Sofort erhellten sich die Gesichter der Prinzessinnen, doch etwas war anders als sonst. Sie behielten ihre Hässlichkeit. Nur eines der Mädchen blieb nicht unverändert in der Ecke ste-hen. Es war von dem Zauber Mariettas erfasst wor-den und strahlte etwas unvorstellbar Schönes aus. Seine Hässlichkeit war verschwunden – wie auch der bestialische Mundgeruch (nur so nebenbei). Die sechs anderen Mädchen sahen dies und versuchten nicht einmal, sich zu beherrschen. Sie erlitten einen unvorstellbaren Wutausbruch, als sie bemerkten, dass sie nicht die Liebe verspürten, die ihnen ei-gentlich zuteil werden sollte. Die Königin reagierte verärgert und verlangte, dass sie sich noch einmal von Marietta in die Augen blicken lassen sollten. Diese jedoch weigerte sich, da der Zauber nicht ein weiteres Mal angewendet werden dürfe.
Jetzt nimmt das Märchen einen schlechten Verlauf! Man kann fast sagen, einen der schlechtesten, den ein Märchen so nehmen kann … Der König verlang-te nun etwas von Marietta, was, das könnt ihr euch nicht vorstellen! Er wollte, dass Marietta ihre sechs schönen Jungen, alle wie die Prinzessinnen anderen Alters, herbeiholt, um etwas für ihn zu tun. Sie soll-ten sich vor die sechs Mädchen stellen und sie um einen Tanz bitten. Ja, ihr habt richtig gehört. Un-vorstellbar, nicht wahr? Doch das Schlimmste kommt noch. Als der Tanz vorbei war, verlangte die Königin von den Söhnen Mariettas, dass sie um die Hand ihrer sechs Töchter anhalten sollten. Dies verweigerten sie jedoch. Da wurde die Königin so wütend, dass sie einen Fluch nach dem anderen aussprach. Ja, sie verfluchte sie, sie sollten ewig alleinstehende Männer und unvorstellbar hässlich sein und bleiben. Die jungen Männer lachten nur und verließen den Raum. Da der König und die Kö-nigin bemerkten, dass sich nichts machen ließ, scheuchten sie alle ihre hässlichen und heulenden Mädchen in die wartende Kutsche. Das siebte Mäd-chen jedoch, Sofie war sein Name, sträubte sich, mit seinen Elten und Geschwistern mitzukommen. In ihr sah die Königin die einzige Hoffnung auf eine Hochzeit, und deshalb zwang sie sie einzusteigen. Das finde ich ziemlich ungerecht von dieser Frau, wenn ihr mich fragt. Als Sofie der Aufforderung ih-rer Mutter nachkam, fing sie fürchterlich an zu wei-nen. Marietta versuchte, die Königin von ihrem Plan abzuhalten, doch sie hatte keine Chance.
Ja, so trug es sich zu an jenem Tage. Hört sich noch nicht so dramatisch an, wie es noch werden sollte. Ein Jahr nämlich nach dem Besuch der Kö-nigsfamilie in dem kleinen Dorf waren schon viele schreckliche Dinge geschehen. Die Prinzessinnen  waren noch immer so wie vor dem Besuch bei Ma-rietta, und auch an den Hochzeitsplänen hatte sich nichts verändert. Ja, es scheint, als sei alles geblie-ben, wie es war. Doch ich habe nicht umsonst von dem Dorf und seinem Ruf erzählt. Es geschah näm-lich, sagen wir einen Monat, nachdem die Königs-familie abgereist war, etwas ziemlich Schlimmes und Unheimliches in dem kleinen Dörfchen. Mariet-ta, die sonst so geachtete und geliebte Frau, wurde plötzlich zum Gespött der Leute, da ihre Söhne eine Hässlichkeit annahmen, wie es man nur selten ge-sehen hat. Aus den einst schönen Jungen waren hässliche Männer geworden, die niemand anzu-schauen vermochte. Marietta wurde darüber sehr traurig, und als die Dortleute eines Tages so weit gingen, dass sie sie wegen Betruges anklagten, da sie angeblich versucht hätte, mit einer erfundenen Gabe Geld zu machen, wurde sie sehr wütend. In ihrer Wut über ihre Oberflächlichkeit und Bosheit und darüber, dass sie nicht verstanden, dass die Hässlichkeit oder Schönheit der Menschen nur mit der Liebe zu tun hatte, die sie in sich trugen, ver-gass sie alles um sich herum, und sie sprach einen unglaublich schlimmen und gefährlichen Fluch aus, der alles Weitere verändern sollte. Sie brachte ei-nen Fluch über das ganze Dorf, in dem sie lebte. Und somit wurde dieses seither immer wieder von Pest und anderen Krankheiten heimgesucht, und die Menschen quälten sich in ihrer Haut, aus der sie nicht fliehen konnten.
Seit diesem Vorfall hat niemand jemals mehr dieses Dorf betreten. Es kursierten nur viele Geschichten und Sagen. Doch keine stimmt so genau, wie ich meine. Woher ich das weiß? Ich war selbst in die-sem Dorf und wurde verflucht. Ich lebe seitdem mit schrecklichen Schmerzen. Doch ich habe nicht im-mer dort gelebt. Einst lebte ich in einem fernen Land. Aber ich hatte viele Fragen an die ‚göttliche’ Marietta, wie sie damals genannt wurde. Und so kam ich in dieses Dorf. Ich bin da schon einmal gewesen, sagte man mir zumindest. Mir kam es eher wie ein Traum vor. Nun aber weiß ich, dass es keiner war. Mein Name? Ich heiße Sofie.

Xenia Storms ( 17 Jahre )

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