Caselmann, Bentick: als gingen wir im traum. gedichte

Autor: 

bentick caselmann
als gingen wir im traum
gedichte

ISBN 978-3-86685-571-7

72 S.,10,80 Euro

 

 

 

 

alles was du je erblickt hast
und je erfahren wirst
ist das spiegelbild
deiner selbst
    


bentick caselmann

1973 in hannover geboren.
nach verleben der ersten zwei lebensjahre am stein-huder meer umzug nach duderstadt ins eichsfeld am südrand des harzes, wo er aufwuchs und heute mit seiner frau und seinen drei kindern lebt.
er arbeitet in eigener praxis als psychotherapeut und psychiater.
 

 



Bentick Caselmanns lyrischer Erstlingsband ‚als gingen wir im traum‘ weist eine sprachlich-bildliche Dichte auf, die in dieser Form einfach nur als ‚besonders‘ bezeichnet werden kann. Es begeistert, wie es dem Autor mittels Bildkonstruktionen und verdichteter Sprache gelingt, den für ihn stets fließenden Prozess des Austauschs zwischen Welt und Ich, wobei das Ich auch zur Welt werden kann, in seiner kognitiven und emotionalen Verfasstheit greifbar zu machen. Die Entwicklung der Identität eines Menschen als Austausch zwischen Ich und den gesellschaftlichen Um-ständen erweitert er, wie er in einem seiner Gedichte schreibt, um die ‚instände‘.

wer ich bin frag doch
die anderen so lautet der
titel eines buches von frau j. einer
bekannten psychologin
die identität eines menschen entwickele
sich aus den erfahrungen mit
den jeweiligen lebensumständen

und was ist mit
den inständen

Die Instände, verstanden als Austausch des Ichs mit seiner umgebenden Welt, stellen somit den Inhalt seines Lyrikbandes da. Er kann nicht anders, denn in seinem psychologischen-philosophischen Grundansatz geht der Autor davon aus, dass wir niemals eine wie auch immer geartete objektive, unabhängig von uns existierende gesellschaftliche Wirklichkeit erkennen, vielmehr nur unsere Spiegelung in der Wirklichkeit. Das heißt unsere Gefühle, Hoffnungen, Enttäuschungen, Wünschen spiegeln sich in den Momenten unseres Austauschs mit der Wirklichkeit, auch mit anderen Menschen. Das lyrische Ich seiner Gedichte sucht die Stille, die Nähe, atmet die Natur, um

Seite 2/Literarische Stellungnahme


sich in diesen Prozessen selbst zu fühlen. Die Hektik, Oberflächlichkeit, Grellheit und Laustärke der Welt sind dem Autor zuwider, sie hindern ihn, die Welt und damit sich selbst wahrzunehmen.
Der Rückzug in die Innerlichkeit der Wahrnehmung ist bei Caselmann nicht als gesellschaftlicher Rückzug anzusehen, vielmehr als Moment der Stärkung des Individuums im Prozess der Auseinandersetzung mit der Gesellschaft. Die Literarisierung der Instände ist in diesem Sinne kein Rückzug, auch wenn dies in einigen Gedichten Caselmanns leicht anklingt, vielmehr ist die Literarisierung ein Aufzeigen der Wechselwirkung dieser Auseinander¬setzung, ein Begreifen der Individualität, eine Stärkung des ICHS im erkennenden Prozess.
Caselmann nähert sich damit literarisch Positionen, wie wir sie in den Sechzigerjahren vor allem bei Gabriele Wohmann, Karin Struck, Peter Stefan, Thomas Bernhard und Rolf Dieter Brinkmann (vor allem in der Prosa) in der Abkehr von der Politisierung der Literatur finden, wieder an und setzt sie in einem unabhängigen sprachlichen Stil um. So finden wir in seinen Gedichten zahlreiche zeilenübergreifen Sätze, die die Gedankenverschlingung des Individuums, die Komplexität des Fühlens und Denkens im Erkenntnis¬prozess anzeigen, eine Hinwendung zu Naturbildern etc. Auch die komplette Kleinschreibung der Wörter zeigt die Gleichrangigkeit der Wortbedeutungen in diesem Prozess des Selbsterkennens an. Nicht weniger ist das Fehlen der Gedichtüberschriften zu deuten. Die Komplexität und Verschlungenheit der Gedanken macht die Reduktion auf eine Begrifflichkeit unmöglich.

Caselmanns Lyrikband ist ein einziger emotional-kognitiver Genuss. Trotz aller komplexer psychologisch-philosophischen Hintergründe und Gestal-tungsabsichten ist der Band auch für einen ungeübten Leser problemlos rezipierbar. Eine erstaunlich schlichte Sprache, die durch ihre Bildlichkeit lebt, ermöglicht ein Hineingleiten in die Inhalte, ermöglicht einen problem-losen Transfer in eigene Wirklichkeiten. Er führt mich zur Fragestellung, ob ich jetzt tatsächlich die Liebe meines Gegenübers oder nur die Ausstrahlung meiner Vorstellung von Liebe durch mein Gegenüber spüre.