Heiser, Dorothea (Hg.) Wygodzki, Stanislaw - Tagebuch der Liebe
Autor:
Meine Trauer ist nicht die erste,
meine Trauer ist nicht die letzte.
Wenn das Herz sich verschließt,
dann wohl durch ein Gedicht ...
(Aus Stanisław Wygodzkis Gedicht
Über die Mühsal)
Stanisław Wygodzki, Tagebuch der Liebe.
Eine Begegnung in Gedichten, Briefen und Interviews.
Heiser, Dorothea (Hg.),
Vorwort Hans Zehetmair,
Nachwort August Everding.
Aus dem Polnischen übersetzt
von Nina Kozlowski
sowie Bettina Eberspächer, Helene Lahr,
Alfred E. Thoss und Irena Wygodzki.
Vechta-Langförden, Geest-Verlag, 2005
3, Auflage November 2007
ISBN 3-937844-51-1
Vorwort
Der Holocaust ist das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte. Die schrecklichen Ereignisse, die Unmenschlichkeit, die Verbrechen und Greueltaten lassen uns auch heute noch erschaudern.
Geschichtliche Dokumente aus der Zeit des Nationalsozialismus müssen gesammelt werden, um nach-folgenden Generationen zugänglich zu sein und als Warnung zu dienen.
Die Gedanken sind frei und können von keinem noch so grausamen Regime verboten werden. Dies belegt Stanis-ław Wygodzki mit seinen Gedichten, die nun erstmals in deutscher Sprache erschienen sind.
Die gesammelte Korrespondenz und das Zeitzeugen-Interview gewähren Einblick, wie sich der frühere KZ-Häftling seiner eigenen Vergangenheit annähert. Die schrecklichen Erlebnisse versucht er zu verarbeiten, in-dem er rund fünf Jahrzehnte später nach Deutschland zurückkehrt.
Die Herausgeberin Dorothea Heiser verdient großes Lob für die Initiative zum Zustandekommen dieses Gedicht-bandes Tagebuch der Liebe.
Der Leser sei gebeten, die Inhalte der Gedichte im Kontext mit den unzähligen Opfern des Nationalsozialismus
zu sehen, denen mit dieser Publikation in Würde und Respekt eine bleibende Erinnerung zuteil wird.
Dr. h.c. mult. Hans Zehetmair
Staatsminister a.D.
Vorsitzender der Hanns-Seidel-Stiftung
Nachwort von August Everding (1928-1999)
„Keine Macht der Welt kann den Menschen als geistiges Wesen vernichten.“
(Karl Röder, Überlebender des KZ Dachau)
Das ist für mich der bewegendste und gewichtigste Satz eines Opfers der Nazi-Barbarei. Das ist eine Essenz aus unendlichem Leid und Verzweiflung, die wieder hoffen läßt, Hoffnung gibt ...
Die Frage „Warum die Gedichtform?“ gestattet eine Viel-zahl von Antworten. Wir nähern uns diesen Antworten über die Grundsatzfragen: „Was ist ein Gedicht?" und „Wie erleben wir ein Gedicht?" Die allgemeinste Antwort könnte lauten: Ein Gedicht ist ein Stück verdichteter, gestalteter Sprache. Die Begegnung damit erfolgt über das Formverständnis und dann als Echo des ver-dichteten Wortes. Wo diese doppelte Wahrnehmung ausbleibt, findet keine Begegnung mit einem Gedicht statt. Wir haben in einem Gedicht einen Ort und eine Art der Begegnung. Und diese Begegnung bezieht sich sowohl auf den Text wie auch auf uns selbst. Wir begegnen in einem Gedicht dem anderen – und uns selbst.
Die Grunderfahrung ist das „gezeichnete Ich“. Diese Me-tapher von Gottfried Benn bekommt in diesen Auf-zeichnungen eine ganz konkrete und beklemmende Be-deutung. Der Mensch als ergriffenes, vergewaltigtes Ich. In der Begegnung mit diesen Gedichten wird auch der Begegnende selbst in Frage gestellt. Er soll das Zeichen verstehen lernen, durch das die Autoren gezeichnet wur-den. Und der Begegnende soll Zeichen sein für das, was der Mensch sein kann.
Ein Gedicht ist ein Konzentrat, die Verdichtung der Sprache auf den Gedanken und auf den Geist ... Das Ge-dicht wird so, wie Walter Jens schreibt, „Ausdruck des Überlebenswillens, der Vers zum Zeugnis für die Gegen-Kraft des Gedankens".
Nach Auschwitz Gedichte zu schreiben, sei barbarisch. Dieses Verdikt fällte Theodor W. Adorno 1949. Später, 1966, nahm er es wieder zurück. Das totale Versagen der bürgerlich-europäischen Tradition angesichts des Geno-zids veranlaßte ihn dazu. Die Welt schien zu ernst ge-worden für eine selbstgenügsame, heitere Kunst. Das Massensterben widerstehe dem Versuch sprachlicher Bewältigung.
Hilde Domin hielt dagegen: nicht trotz, sondern wegen Auschwitz seien Gedichte nötig und nötiger denn je. Das Unaussprechliche nachträglich in Worte zu bannen – für viele Opfer die einzige Chance, die Erinnerung zu ver-arbeiten, sich von einer un-sagbaren, un-säglichen Last zu befreien. Und dennoch: ein Vergessen, ein Leben „da-nach", war für viele Betroffene nicht möglich. Wer die Hölle des Konzentrationslagers überlebte, trug diese Hölle in der Regel für den Rest seines Lebens mit sich. Haß- und Schuldgefühle wurden zu einer lebens-bedrohenden Mischung, an der nicht wenige zerbrachen. Suizid infolge der traumatischen Lagererfahrung war nicht ungewöhnlich. „Wer wird je frei sein von Dachau?", fragte einer der amerikanischen Befreier. Arthur Haulot, ein belgischer Überlebender der Lager Dachau und Mauthausen, schrieb 1946 in einem Gedicht: „O, ihr To-ten, laßt uns jetzt! Löst euch von unseren Schultern, damit wir uns wieder aufrichten können ..."
Die Aufarbeitung des Traumas KZ ist bis heute nicht abgeschlossen, wird nie abgeschlossen sein. Verständli-cherweise hat man zunächst versucht, sich dokumenta-risch, sozusagen „gefühlsneutral" dem Thema zu nähern. Die Trivialität des Entsetzlichen wurde mittels Zahlen und Sachkommentaren vor Augen geführt. Es ver-wundert aber, in welch geringem Ausmaß bisher auch die Lyrik der Betroffenen herangezogen wurde. Keine Beschreibung könnte die Seelenzustände der Betroffenen besser dokumentieren ...
Ich bin ein Theatermensch. Ich komme aus einer Welt des Als-ob, einer Welt des Scheins, in der es unvorstell-bare Grausamkeit ebenso gibt wie die unendliche Güte – aber immer nur als ob. Aischylos, Sophokles, Shakes-peare, Schiller – alles wahrhaftige Dichter – des „als ob". Wahrhaftig sind allenfalls die beim Publikum evozierten Gefühle und das unter bedingter Gefahr.
Lyrik kennt kein „als ob". Lyrik ist wahrhaftige Empfin-dung nach außen gekehrt. Sie stellt das Selbstverständnis des Lesers in Frage und ist daher für den Leser so ge-fährlich.
Und übrig bleibt eine Feststellung: Nie wieder! ...
Der menschliche Atavismus muß durch Zivilisation, durch Kultur bekämpft werden – und durch Erinnerung.
(Auszug aus einer Rede von Professor August Everding zur Veranstaltung ‚Mein Schatten in Dachau’ am 29. April 1998 im Literaturhaus München mit freundlicher Genehmigung von Frau Dr. Gustava Everding)