Kindheit in Russland
Autor:
Herausgeber: Literaturkreis der Deutschen aus Russland
Kindheit in Russland
Kindheit in Russland
Eine Anthologie des Verstehens
Erzählungen und Erinnerungen russlanddeutscher Autoren.
Zusammengestellt von Agnes Giesbrecht.
Vorwort von Ingmar Brantsch.
Geest-Verlag: Vechta-Langförden, 2005
ISBN 3-937844-58-9
316 S.
12.50 Euro
Literaturkreis der Deutschen aus Russland (Hrsg.):
"Kindheit in Russland"
Eine Anthologie des Verstehens
Erzählungen und Erinnerungen russlanddeutscher Autoren.
Zusammengestellt von Agnes Giesbrecht. Vorwort von Ingmar Brantsch.
Diese Anthologie bietet einen Überblick über das Leben, Denken und Fühlen der Deutschen in Russland im 20. Jahrhundert. In den Kindheitserinnerungen der Autoren spiegeln sich die verschie-denen Phasen der Politik gegenüber dieser Bevölkerungsgruppe,
von denen mehr als 2 Millionen Menschen nun in der Bundesrepublik leben. Als 'Fremde' wurden sie in Russland gesehen und werden sie heute in unserem Land betrachtet. Diese Anthologie versucht auch dem bundesdeutschen Leser, die Menschen mittels der Darstellung von Einzelschicksalen näher zu bringen, damit die Basis für ein Verstehen zu legen.
Inhaltsverzeichnis
Ingmar Brantsch:
Vorwort
Erinnerungen an die Kindheit in den 30er Jahren
Gottlieb Eirich:
Wie wir Krebse und Hechte fischten
Martin Thielmann:
Viktors Kindheit
Kurt Hein:
Oase in der Steppe
Kasak und Ljonka
Die Kameljagd
Spartakiade, erste Shorts und der erste Sieg
Maria Putinzewa-Neumann:
Kindheitserinnerungen
Irene Mohr:
Wohin (Erzählungen über die Kriegs- und Nachkriegszeit)
Gottlieb Eirich:
Das Picknick am 21. Juni 1941
Eine Weihnachtsnacht in der Taiga
Karl Bauer:
Schichlat
Wassermelone
Kurt Hein:
Spinat vom "Land Lease"
Viktor Heinz:
Der letzte Brotlaib
Jacob Ickes:
Die Flucht
Johann Keib:
Kleine Bettlerin
Anatoli Steiger:
Die Nacht vor der Abschiebung
Erinnerungen an die Kindheit in den 50er Jahren
Egon Krohmer:
Weg zum Steinbruch
Reinhold Schulz:
Im Hohen Norden
Erzählungen über die Kindheit in den 60er Jahren
Georg Gaab:
Trusy
Das Plumpsklo
Die kleine Olga
Cousin Johann
Die rechte Hand
Agnes Giesbrecht:
Der Aufsatz
Waldemar Hermann:
Das Abgleiten
Erzählungen über die Kindheit in den 70er Jahren
Alexander Reiser:
Jungen spielen gerne Krieg
Sergej Hermann:
Der letzte Abrek(Freischärler)
Reinhold Schulz:
Freund
Erzählungen über die Kindheit in den 80er und 90er Jahren
Eugen Maul:
Altpapiersammeln
Sergej Hermann:
Vera
Biographische Notizen
Vorwort
Der Kindheit Zauber vom Wolgastrand bis
Sibiriens Eiswüsten und Kasachstans Gluthitze
Zur "Anthologie Kindheit in Russland" von den 30er
Jahren bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts
Diese Anthologie bietet einen Einblick in das in der Bundesrepublik viel zu wenig bekannte Leben, Denken und Fühlen der Russlanddeutschen, obwohl inzwischen über zwei Millionen von ihnen im wiedervereinigten Deutschland leben. Einige Hunderttausend davon gleich nach dem 2. Weltkrieg als im Zuge des Hitler-Stalinpaktes "Heim ins Reich" geholte Deutsche aus dem von der Sowjetunion an Rumänien abgetretenen Bessarabien (heute der G.U.S.-Staat Moldowa oder Moldawien) oder andere Deutsche aus der Sowjetunion, die in den Kriegs- und Nachkriegswirren nach Deutschland gelangten.
Zu diesen längst integrierten Russlanddeutschen kamen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion von 1990 bis heute noch über zwei Millionen russlanddeutsche Spätaussiedler hinzu.
Ein großer Teil davon - besonders die ältere Generation in den ersten Jahren der Spätaussiedlung - sprach noch fließend Deutsch. In den letzten Jahren ließ die Sprachkenntnis aber merklich nach, da besonders in der mittleren und jungen Generation die Pflege der deutschen Sprache in der Sowjetunion nicht nur nicht mehr gefördert - wie ehemals in der Wolgadeutschen Republik - sondern vernachlässigt oder gar behindert wurde.
Vor Stalins Erlass vom 28. August 1941, der die Sowjetdeutschen in Sippenhaft nahm und aus dem europäischen Teil der Sowjetunion nach Sibirien und Kasachstan deportierte - nach dem Auflösen der Wolgadeutschen Republik, die 1924 auf Empfehlung Lenins gegründet worden war - gab es in der Sowjetunion außer in der Wolgadeutschen Republik auch in der Ukraine, am Schwarzen Meer, auf der Krim und im Kaukasus für die dort lebenden Deutschen deutschsprachige Schulen und andere kulturelle Einrichtungen wie Theater, Chöre, Kulturhäuser, Zeitungen, Bücher und Radiosendungen.
Aus der Zeit, als es noch einen richtigen russlanddeutschen Sprachalltag im wolgadeutschen Dorf gab, in den 30er Jahren berichtet Gottlieb Eirich in der Kurzerzählung "Wie wir Krebse und Hechte fischten". Von der späteren Auflösung der Wolgadeutschen Republik und der Deportation ihrer Bewohner noch unberührt, erzählt Eirich unbekümmert über die Erlebnisse dreier wolgadeutscher Jungen beim Krebsfangen. Den Hecht allerdings kriegen sie nicht, da es diesem gelingt - schon gefangen - doch noch zu entwischen. Wenn man will, eine kleine humorige wolgadeutsche Alternative zu Hemingways weltberühmter Erzählung "Der alte Mann und das Meer", umso mehr, als hier bei Eirich der Hauptheld überhaupt nicht unglücklich ist, dass der listigere Hecht verdienterweise mit dem Leben davonkommt.
Ähnlich poetisch heiter unbekümmert und dabei mit einer dichten anschaulichen Beschreibung der üppigen Natur um einen See in der sonst trockenen Steppe Kulundas wartet Kurt Hein auf in "Oase in der Steppe". Er hat aber auch viel Sinn für den unfreiwilligen Alltagshumor in einer Planwirtschaft, die zu seltenen Blüten führen kann wie im Fall der Erzählung "Spartakiade, erste Shorts und der Sieg". Da es keine Turnhosen zu kaufen gab (ein Thema, das auch Georg Gaab abgewandelt als Badehose in seiner Erzählung "Trusy" (russisch Unterhose) behandelt), bestreitet der Junge die Wettkämpfe in einer Hose aus einem Stoff mit Blümchenmuster, um dann als Siegestrophäe Früchtetee zu gewinnen.
Allerdings geht es auch bei den Geschichten vor dem 2. Weltkrieg nicht weiter so heiter und ungelöst zu, denn die 30er Jahre waren auch die Zeit der Schauprozesse und der willkürlichen Hinrichtungen, wie es unter anderem in den "Erinnerungen" von Maria Putinzewa-Neumann thematisiert wird, wo ein russlanddeutsches Mädchen in der Verbannung seine beachtliche Stimme nicht ausbilden kann oder in Irene Mohrs Prosa "Wohin".
Die Kindheitserinnerungen der 40er Jahre, in der Anthologie als Kriegs- und Nachkriegszeit bezeichnet, gehören naturgemäß zu den dramatischsten des Buches.
Nach Stalins Erlass von 1941 wurde die Wolgadeutsche Republik aufgelöst und nicht nur ihre Bewohner wurden nach Sibirien und Kasachstan deportiert, sondern alle Russlanddeutschen aus dem europäischen Teil der Sowjetunion.
In der Verbannung als "Faschisten" denunziert und diskriminiert - obwohl vor dem 2. Weltkrieg die Russlanddeutschen wegen ihrem sprichwörtlichen Fleiß und ihrer guten Arbeitsdisziplin durchaus gut gelitten waren - mussten sie im wahrsten Sinne des Wortes fürs Überleben kämpfen, was bedeutete, schwerste körperliche Arbeit für ein ganz geringes Entgelt leisten. Und dies ohne Väter, denn alle arbeitsfähigen russlanddeutschen Männer wurden in die Trudarmee, die Arbeitsarmee, einberufen. Im Grunde genommen in Arbeitskonzentrationslager. Später wurden dann auch alle russlanddeutschen Frauen - wenn sie keine Kleinkinder unter 3 Jahren hatten - nachgeholt.
Die zurückgebliebenen älteren Frauen und Kinder leisteten Unglaubliches, wie es auch Karl Bauer in seiner Erzählung "Schichlat" beschreibt. Er bleibt aber nicht beim Weinen und Klagen stehen, sondern er sprengt den Kreis des Leidens und zeigt, wie ein nach Sibirien verschlagener georgischer Kolchosevorsitzender Mitleid mit dem russlanddeutschen Jungen bekommt, dem der Eimer in den Brunnen gefallen ist. Dieser Kolchosevorsitzende - Georgier wie sein berüchtigter Landsmann Stalin (mit bürgerlichem georgischem Namen Dschugaschwilli) - hilft nicht bloß dem russlanddeutschen Jungen, sondern vor allem auch dessen blinder Großmutter. Ein Zeichen, wie gut die Russlanddeutschen mit ihren Nachbarn, den Russen, Ukrainern, Kaukasiern und in der Verbannung Kasachen, Usbeken, Kirgisen und Tadschiken auskamen. Auch heute noch leben etwa 300.000 Russlandeutsche in Kasachstan und immerhin noch 16.000 in Kirgisien, die ihre kulturellen und religiösen Traditionen ungehindert, auch Dank der Hilfe der Bundesrepublik, pflegen können.
Welche existenzielle Bedeutung "einfache" Lebensmittel, nicht zu Unrecht "Grundnahrungsmittel" genannt, in der Kriegs- und Nachkriegszeit erhielten, beweisen die Erzählungen von Viktor Heinz "Der letzte Brotlaib" (ein Auszug übrigens aus seinem stark autobiografisch gefärbten Roman "In der Sackgasse"), "Spinat vom Lande Lease" von Kurt Hein, "Die Flucht" von Jacob Ickes und Johann Keibs "Die kleine Bettlerin". Die kleine wolgadeutsche Bettlerin, ein total verschüchtertes Mädchen, stirbt fast hungers, weil es sich einfach nicht getraut zu betteln. Zum Glück hat eine russische Mutter Mitleid mit der Kleinen, bringt sie in ihre Küche und gibt ihr zu essen, während ihre eigenen Kinder sich wundern, dass die kleine Russlanddeutsche ein Kind ist wie sie und nicht wie die staatliche Kriegspropaganda verbreitet, alle Deutschen seien Faschisten, die auch noch Hörner trügen. Man griff in der Kriegspropaganda auch auf Bilder alter Germanen mit Kuhhörnern an den Helmen zur Abschreckung der Feinde zurück. Hier bedient sich Johann Keib trotz des Ernstes des Themas eines feinen unterschwelligen Humors. Der kleinen Bettlerin, einer Russlanddeutschen ohne Hörner, wird geholfen und auf diese Weise ein auffälliges Vorurteil beseitigt. Wie bleibt es aber mit den "unauffälligen" Vorurteilen?
In Jacob Ickes' Erzählung "Die Flucht" werden die Lebensmittel zu "Überlebensmitteln", da die halbwüchsigen russlandeutschen Jugendlichen einem Straflager entfliehen, nachdem sie sich Wasser und Brot abgespart haben für drei Tage Flucht. In drei Tagen, meinen sie, müssten sie die endlose Steppe - immer nach Westen flüchtend, bis zu einem von Menschen bewohnten Ort - durchqueren können. Nach zwei Tagen treffen sie total erschöpft auf einen nomadisierenden Kasachen, der ihnen freundlich hilft, wie es der geneigte bundesdeutsche Leser - falls er etwas reifer ist - noch aus dem Nachkriegsroman von Josef Martin Bauer "So weit die Füße tragen" kennt. Allerdings flüchtet dort ein "ewiger" Landser erfolgreich - der Kalte Krieg lässt grüßen - während hier die drei halbwüchsigen Russlanddeutschen geschnappt werden von drei grimmigen KGB-Reitern. Doch es gelingt dem freundlichen Kasachen, diese drei Geheimpolizisten zu überzeugen, die Jugendlichen hätten sich nur verirrt, er bringe sie zu ihrem Lager zurück. Keine Tragik, aber auch kein Happy End, denn realistisch gesehen ist eine Flucht in den Weiten Sibiriens und auch Kasachstans schier aussichtslos.
Sprachlich ergreifend, psychologisch ziseliert ist die Geschichte vom letzten Brotlaib, den der russlanddeutsche Junge - ein alter Ego von Viktor-Heinz - seiner Großmutter klaut, um auch einmal in der Schule den anderen hungernden Kindern etwas anbieten zu können. Der Junge nahm an, dass sich unter dem über den Brotkorb gelegten Tuch noch andere Brote befänden. Er klaut das allerletzte Brot und beschwört dadurch eine Katastrophenstimmung herauf, aus der ein kasachischer Nachbar im letzten Moment tatkräftig hilft.
Anatoli Steiger liefert in seiner Erzählung "Die Nacht vor der Abschiebung" eine erzähltechnische und sprachliche Meisterleistung ab, in der er die für ein Kind traumatische Erniedrigungssituation dieser Jahre nacherlebt. Der Vater in Deutschland, die Geschwister im Gefängnis, das Kind, zur Arbeit gezwungen, mit der Mutter allein den Schikanen der Staatsmacht ausgesetzt. Im Übrigen ist diese Erzählung eine Variation aus dem soeben in einer neu überarbeiteten Fassung erschienenen Roman "Die Fremden".
Während die Erinnerungen aus den 50er Jahren von Egon Krohmer "Weg zum Steinbruch" und Rheinhold Schulz "Im hohen Norden" noch ganz der Dramatik der Verbannung verpflichtet bleiben, kommen in den Erinnerungen über die Kindheit in den 60er Jahren auch wieder komische und tragikomische Aspekte zur Geltung.
1956 hatte man unter Chruschtschow (der von 1954-1964 regierte) auch für die Russlanddeutschen die "Kommandantur" endlich abgeschafft. Das heißt, ein Jahr, nach-dem Konrad Adenauer 1955 die letzten 10.000 deutschen Kriegsgefangenen heimbrachte, wurde einer Million Russlanddeutschen endlich gestattet, ohne Meldepflicht bei der Polizei und ohne Reisebeschränkungen zu leben. Die Rückkehr an die Wolga, in ihre alte wolgadeutsche Republik, wurde ihnen aber nicht erlaubt, so dass sie sich mit ihren neuen Aufenthaltsgebieten abfinden mussten. Dies behandelt mit viel psychologischem Einfühlungsvermögen Waldemar Hermann in seiner Geschichte "Das Abgleiten".
Es gelingt ihm, ergreifende Überlegungen über Heimat und Heimatverbundenheit dem Leser vorzuführen. Man wird an Erst Bloch und den Schluss seines Hauptwerks "Das Prinzip Hoffnung" erinnert, wo Bloch den Heimatbegriff als erahnte und erträumte Geborgenheit anspricht. Der Junge aus Waldemar Hermanns Erzählung erahnt aus der Tatsache, dass des Vaters Wurzeln nicht am Verbannungsort, sondern an der Wolga lagen, etwas von dem geheimnisvollen Daheim, von der Heimat auch als Sehnsucht nach Geborgenheit. Das Leiden der zweiten Generation in der Verbannung erhält hier seine Stimme. Eine nicht allzu häufige Betrachtung in der jüngeren russlanddeutschen Literatur, denn diese in der Verbannung geborene und großgewordene Generation hat sich den neuen Bedingungen stellen müssen, wie dies Georg Gaab in seinen humorvollen Kurzgeschichten "Trusy" über die Mängel der Planwirtschaft und "Das Plumpsklo", "Die kleine Olga", "Cousin Johann" über die manchmal recht eigenartigen Erziehungsmethoden dem Leser anschaulich, mit viel Lokalkolorit, vor Augen führt.
Agnes Giesbrechts Erzählung "Der Aufsatz" bringt diesen russlanddeutschen Konflikt zwischen der noch ganz in der Tradition ihrer Herkunftsgebiete verweilenden Elterngeneration und der jungen Generation, die sich nicht isolieren möchte von ihren Schul- und Spielkameraden, gekonnt zur Sprache. Es entstehen Schülerfreundschaften auch zwischen Mädchen und Jungen - und ein sensibles russlanddeutsches Schulmädchen steht plötzlich in einem ganz eigenen Beziehungsgeflecht und möchte von Herzen gern Hilfebedürftigen mit Rat, und was besonders wichtig ist, auch mit Tat beistehen.
Von der Schule inspiriert, scheint ihr dies am besten bei den jungen Pionieren, der staatlichen Kinderorganisa-tion, zu bewerkstelligen zu sein. Dort war Arkadi Gcidars Jugendbuch "Timur und sein Trupp" ein Kultbuch der Nächstenliebe, der Nächstenhilfe und des gesellschaftlichen Engagements schlechthin. Timur und seine Truppe waren eine Art sozialistische Heinzelmännchen, die Witwen und Waisen, Alten und Schwachen im Geheimen halfen und sich diebisch freuten, wenn diese vollkommen überrascht überglücklich waren. Um auch ähnlich handeln zu können, schreibt die junge Russlanddeutsche einen schwärmerischen Aufsatz über ihre Sehnsucht nach dieser Organisation und löst eine Kette von Katastrophen aus, denn ihre konservativen Eltern sind entsetzt, als ein Journalist bei ihnen hereinschneit, weil die Literaturlehrerin diesen ungewöhnlichen Aufsatz an die Presse weitergab.
Wie sich diese Konfliktsituation atmosphärisch immer stärker auflädt, schildert Agnes Giesbrecht aus der Perspektive dieses zwischen Schule und Elternhaus im wahrsten Sinne des Wortes hin- und hergerissenen Mädchens. Eine realitätsgesättigte, tragikomische Geschichte, die in der DDR oder in jedem anderen Ostblockland ähnlich dramatisch sich hätte ereignen können.
In den 70er Jahren geht die Zeit der Stagnation unter Breschnew (1964-1984) ihren "sozialistischen" Ostblockgang. Alexander Reiser schildert in seiner Geschichte "Jungen spielen gerne Krieg", wie der 2. Weltkrieg zum kindlichen Stereotypenspiel der immer siegreichen "Unseren" und den immer unterlegenen "Faschisten" vereinfacht wird. Dabei sind sowohl die "Unseren" wie auch die Anderen, die "Faschisten", russlanddeutsche Jugendliche. Der Anführer der "Unseren" ist ein einfach gestrickter, überalterter Jugendlicher, während der Kleinste und Schwächste dauernd den "Faschisten" abgeben muss, was ihn dann auf ganz seltsame Gedanken bringt. Alexander Reiser, bekannt durch seinen urigen Humor über Aussiedler und deren Erlebnisse aus seinem Satireband "Die Luftpumpe", ist hier unerwartet ernst und psychologisch abgründig. Doch auch hier schimmert zuweilen ganz versteckt der Humor durch.
Die Erzählungen der 80er und 90er Jahre, also die Zeit von Gorbatschows Perestroika 1985-1990 und Jelzins korruptem Turbokapitalismus (1990-2000), werden nach wie vor von der Planwirtschaft und deren Übergänge in eine zunächst chaotische Marktwirtschaft bestimmt, wie dies Eugen Maul in seiner Geschichte "Altpapiersammeln" darlegt. Um an ein Buch guter und spannender Lektüre zu kommen, musste man 20 Kilo Altpapier abliefern, das nur unter abenteuerlichen Umständen gesammelt werden konnte.
Sergej Hermanns Geschichte "Vera" aus dem Tschetschenenkrieg schildert am Beispiel des tragischen Kinderschicksals der deutschstämmigen kleinen Vera Folgen des Kriegs mit seinen zahlreichen zivilen Opfern.
So klingt die heiter und unbeschwert begonnene Anthologie nach dramatischen, aber auch tragikomischen und sogar komischen Folgen ernst und nachdenklich aus. Wenn es ihr gelingt, Einblicke in das Schicksal dieses "großen Sowjetvolkes", das die Russlanddeutschen mit über 2 Millionen Menschen nach offiziellem Sprachgebrauch auch waren - alle 20 Völker der über 150 Völkerschaften der ehemaligen Sowjetunion, die mehr als eine Million Leute zählten, galten als groß - zu bieten und dem bundesdeutschen Leser eine fremde, aber nicht nur fremde, sondern auch durch eigene Kindheitserinnerungen zugängliche Welt, näher zu bringen, hat sie die unendlichen Weiten Sibiriens und Kasachstans für uns alle noch einmal überwunden. Mit den großen, aufmerksamen Augen der Kinder, die die Autoren einstmals waren.
Ingmar Brantsch