Weinert, Anna: Emsteker Geschichten
Autor:
Weinert, Anna
Emsteker Geschichten.
Erzählungen, Lieder, Gedichte.
Mit Bildern von Ivan Hutsul
Geest-Verlag: Vechta-Langförden, 2005
ISBN 3-937844-62-7
104 Seiten, 10.00 Euro
Anna Weinert wurde in Russland geboren. Ein persönlich und gesellschaftlich schwieriger Lebensweg führte sie schließlich nach Emstek im Landkreis Cloppenburg. I diesem kleinen Städtchen fühlt sie sich mittlerweile so integriert, dass sie den Emstekern quasi als Geschenk für ihre Bereitschaft, einen ausländischen Menschen anzunehmen, ihm das Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen ein Geschichtenbuch widmete. Emsteker Geschichten. Liebevolle kleine Erzählungen, Gedichte und Lieder, die sich mit Menschen, Gebäuden und Ereignissen aus dem Gestern und Heute befassen.
Das Buch ist ab heute über den Buchhandel erhältlich.
Nachfolgende Erzählung des Bandes über die alte Mühle ist einschließlich der Grafik von Ivan Hutsul zur Veröffentlichung freigegeben
Leseprobe:
Die alte Mühle
In Emstek stand einst eine sehr alte Mühle. Wenn die dunkle Nacht auf die Erde kam und alle Menschen schliefen, sah niemand, dass aus einem kleinen Fenster oben in der Mühle zwei Augen traurig auf die Straße blickten. Die zwei Augen waren die des Mühlengeistes, der dort lebte.
Jede Nacht saß er an seinem Fenster und erinnerte sich der schon längst vergangenen Jahre, als in der alten Mühle noch Hochbetrieb herrschte. Menschen aus der ganzen Umgebung kamen zur Windmühle, um ihr Getreide mahlen zu lassen. Der Müller freute sich über den regen Betrieb, denn die vielen Kunden bedeuteten eine Anerkennung seiner Arbeit und ein gutes Auskommen. Auch der Mühlengeist hatte seine Freude an den vielen Menschen, stets war er froh und lustig. So gut es ging, half er dem Müller bei seiner Arbeit. Nur zu gerne belauschte er auch die Gespräche der Menschen und wusste stets alle Neuigkeiten aus der ganzen Umgebung.
Sein Herz sang vor Freude, wenn er die schweren Windmühlenflügel im Wind knarren hörte. Für den Mühlengeist war dieses Knarren die schönste Musik der Welt. Oft setzte er sich auf die Flügel der Mühle und mit ihnen drehte er sich im Wind, von oben nach unten, von unten nach oben. Er lachte vor Freude und Glück. "Oh, diese Windmühlenflüge sind einfach wunderschön!"
Doch der Mühlengeist erinnerte sich mit einem Seufzer auch an jene schweren Zeiten, als es im Land zu Missernten kam und die Windmühle nicht mehr rentabel genug arbeiten konnte. Manche Tage gab es zudem keinen Wind und dann standen die Flügel still. Oder aber der Wind pustete so stark, dass die Flügel angehalten werden mussten, da sie sonst die ganze Windmühle weggerissen hätten.
Der Mühlengeist erinnerte sich auch mit Schrecken an die Zeit, als die Besitzer einen lärmenden und stinkenden Dieselmotor in die Mühle einbauten und schließlich ganz auf Elektrobetrieb umstellten.
Und dann kam der traurigste Tag, den der Mühlengeist je erlebt hatte in seinem langen Leben. Da die Flügel nicht mehr gebraucht, alt und morsch wurden, montierte man sie einfach ab. Eine Mühle ohne Windmühlenflügel, der Mühlengeist konnte es nicht fassen. Es kam ihm vor, als sei die Mühle nun nackt.
Doch es sollte alles noch schlimmer kommen. Eines Tages wurde die Mühle für immer geschlossen. Große Betriebe hatten ihre Arbeit übernommen. Von da an stand die Mühle verlassen da und starb vor sich hin.
Der Mühlengeist hätte die Mühle verlassen und sich in einem anderen Gebäude einen Unterschlupf suchen können. Aber er wollte die alte Mühle nicht allein lassen sondern bis an ihr Ende dort wohnen bleiben.
So saß er nun schon viele Jahrzehnte in jeder Nacht an seinem Fenster und erinnerte sich der alten Zeiten.
Eines Vormittags kamen einige sehr geschäftige Menschen zur Mühle. Sie maßen die Wände, den Boden, das Dach, die Fenster und schrieben auf Blättern viele Zahlen, zeichneten die Mühle von allen Seiten auf diese Papiere und gestikulierten wild mit den Händen. Zum Schluss gaben sie sich alle die Hand, so, als ob sie einen Beschluss gefasst hätten.
Und in den darauffolgenden Tagen kamen andere Menschen mit verschiedensten Werkzeugen und begannen zu arbeiten, große Lastwagen lieferten Steine, Holz und vieles andere mehr. Es war wie in früheren Tagen, als viele Menschen aus der Umgebung in die Mühle kamen, um hier ihr Mehl mahlen zu lassen.
Der Mühlengeist, der das geschäftige Treiben zuerst nicht verstanden hatte, begriff mit einem Mal. Die alte Mühle sollte renoviert werden. Natürlich wusste er, dass hier wohl nie wieder Mehl gemahlen würde. Aber es würden wieder Menschen in das Gebäude einziehen. Seine Einsamkeit würde endgültig beendet sein. "Diese Menschen werden die Mühle vielleicht zu einem Café oder zu einem Restaurant umbauen. Sie werden Tische und Stühle aufstellen und Kaffee und Kuchen oder leckere Speisen verkaufen. Die Emsteker werden kommen, sich an die Tische setzen, miteinander reden, lachen und die alte Mühle wird wieder zu neuem Leben erweckt werden."
Jetzt, wenn die dunkle Nacht auf die Erde kommt, sitzt der alte Mühlengeist nicht mehr an seinem kleinen Fenster oben in der Mühle und schaut mit Sorgen auf die Emsteker Straße. Im Moment hat er dazu keine Zeit, schaut sich vielmehr in der Nacht die Arbeit der Handwerker an, die diese am Tag geleistet haben. Er ist stolz und froh, dass die alte Windmühle wieder in neuem Glanz für die Menschen in Emstek entsteht. Sie wird ihnen wieder Glück bringen und einen wichtigen Platz in ihrem Leben einnehmen. Und ein Stück weit setzt sich so auch die Emsteker Geschichte fort.