11.06.2022 - aktueller Autor - Heiko Schulze



Heiko Schulze

Jahrgang 1954, geboren und aufgewachsen in Osnabrück, ist gelernter Gymnasiallehrer für die Fächer Geschichte und Kunst. Er ist Autor verschiedener Publikationen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, zum Thema Kommunalpolitik sowie von unterschiedlichen Aufsätzen zu historischen wie allgemein-politischen Themen. Nach dem Examen war er in verschiedenen Einrichtungen der Erwachsenenbildung tätig sowie bei der Kreishandwerkerschaft Osnabrück, bei der Gelsenkirchener SPD-Ratsfraktion sowie im Büro des dortigen Oberbürgermeisters beschäftigt. Seit 1992 ist Heiko Schulze war Geschäftsführer der Osnabrücker SPD-Stadtratsfraktion, jetzt pensioniert, und nebenberuflich Lehrbeauftragter an der örtlichen Fachhochschule.

 

„Ehe der Hahn dreimal kräht, wirst du mich drei-mal verleugnen", kündete unser Herr Jesus Chris-tus seinem ebenso ungläubig wie warmherzig blickenden Jünger Simon Petrus. Genau so geschah es bis zur Verhaftung des Gottessohns im Garten Gethsemane. Die Bibelseite mit den Worten des heiligen Matthäus liegt nun schon seit langer Zeit offen auf meinem Tisch:

„Petrus aber saß draußen im Hof; da trat eine Magd zu ihm und sprach: Und du warst auch mit dem Jesus aus Galiläa. Er leugnete aber vor ihnen allen und sprach: Ich weiß nicht, was du sagst. Als er aber hinausging in die Torhalle, sah ihn eine andere und sprach zu denen, die da waren: Dieser war auch mit dem Jesus von Nazareth. Und er leugnete abermals und schwor dazu: Ich kenne den Menschen nicht. Und nach einer kleinen Weile tra-ten hinzu, die da standen, und sprachen zu Petrus: Wahrhaftig, du bist auch einer von denen, denn deine Sprache verrät dich. Da fing er an, sich zu verfluchen und zu schwören: Ich kenne den Men-schen nicht. Und alsbald krähte der Hahn. Da dachte Petrus an das Wort, das Jesus zu ihm ge-sagt hatte: Ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen. Und er ging hinaus und weinte bitterlich.“

Mich selbst drückt diese Erzählung aus dem neuen Testa¬ment, wann immer ich sie nachlese. Ich bin betrübt, wann immer Klosterbrüder sie zur Oste-zeit verkünden.
Mir zerspringt das Herz. Denn ich denke an mein eigenes Fehlverhalten. Ich denke an die Verleugnung und Verletzung des besten Freundes, den ich je hatte. Damals, im alten Osnabrücker Rosengarten. Bin ich nur ein Verleugner oder sogar ein Verräter? Ein Mitschuldiger? Nie, so weiß ich, werde ich mein Fehlverhalten gutmachen. Niemals werde ich die Bilder dieser schweren Bürde aus meiner Erinnerung tilgen.

Ortwin, ein weiser Bruder meines Franziskanerordens, lieh mir sein Ohr und Vertrauen. Er riet mir zu einer besonderen Form der Buße. Aufschreiben solle ich alles, was damals geschah. Den Frieden vor Gott dem Herrn sollte ich nur dann erreichen, wenn meine Schuld mit tiefschwarzer Tinte auf einem dicken Bündel Papier nachzulesen sei. Und gutmachen, so Bruder Ortwin, könne ich ohnehin so manches nur in Form einer mir auferlegten Be-scheidenheit, indem ich den verratenen und verleugneten Freund der Nachwelt durch ein Buch unvergesslich mache.

Das Herz ist schwer, und die Angst, schwere Tropfen der so teuren schwarzen Tinte auf ebenso kost-barem Papier zu verschwenden, ohne mit dem Er-gebnis meines Schreibens zufrieden zu sein, trieb mich lange um. Ich war dankbar, dass Bruder Ortwin bei mir blieb, als ich tatsächlich eines Ta-ges mit dem Schreiben begann.
„Notiere das, was Kopf und Herz dir sagen! Schreib in deiner eigenen Sprache!“ Ortwin klopfte leicht auf meine rechte Schulter. Es gelang mir endlich, das ermutigende Lächeln, mit dem er mich bedachte, zurückzugeben.

Schon nach wenigen Sätzen fühlte ich mich besser. Ich bemerkte immer weniger die kalte Zugluft, die durch das schadhafte Glas meiner alten Klosterzelle in die Kammer drang. Selbst das ferne Heulen von Wölfen, das mich zuvor so manches Mal um den Schlaf gebracht hatte, schien mir wie ver-stummt. Nur Ortwins Kerze, die er still neben mei-ne Papierbogen stellte, als es zu dämmern begann, wirkte wie ein sanfter und wärmender Impuls, das Schreiben fortzusetzen. Der flackernde Schein des Lichts schien Papier, Feder und Schrift in Bewegung zu setzen. Es störte mich nicht, sondern be-gann, auf eigentümliche Weise meine Gedanken zu beflügeln. Bilder und vergessen geglaubte Töne verwandelten sich in Buchstaben. Störend und hemmend waren nur noch jene kurzen Momente, in denen ich meine Feder in das tiefschwarze Tin-tenfass eintauchte. Das Herz begann, Macht über meine Hand zu bekommen. Die Kraft der Muskeln und Sehnen entfaltete sich im Takt der inneren Stimmen.
Als sich der Bruder spät die Kutte über den kahl-geschorenen Schädel warf und beinahe unbemerkt die enge Klosterzelle verließ, lagen stolze zehn eng beschriebene Papierseiten vor mir.
Nachdem nun schließlich die tiefe Nacht anbrach und ich mich müde auf den harten Strohsack legte, schlief ich bereits mit den Sätzen ein, die ich tags darauf niederschreiben wollte. So erging es mir fortan Tag für Tag.

Es begann eine Zeit, in der ich Messen und ge-meinsame Gebete mit meinen Klosterbrüdern nur noch sche¬menhaft wahrnahm. Stets überwog die Gier zu schreiben, was mich zwang, viele Beichten mit dem Geständnis zu verbinden, Gott dem Herrn so manche Nähe versagt zu haben. Und mehr ge-schah: Ich weckte nicht nur Bilder, sondern auch Einstellungen der Jugend in mir, die zuvor vergessen schienen. Fern von Gott, dafür näher an Ge-lüsten des Körpers, die das Frommsein unter-drückten. Führte nur noch Bruno Bringewatt meine Hand und war ich erst nach dem Schreiben wieder jener Bruder Heinrich, wie mich meine Ordensbrüder in diesen Mauern fern der alten Heimat nennen? Ich zweifle bis heute und versage mir die Antwort.

Die vorliegenden Aufzeichnungen sind das Ergebnis meines Schaffens. Aufzeichnungen, die von Erlebtem berichten, von eigenen wie fremder Men-schen Sünden, was vor allem dem Ziele dienen muss, Gerechtigkeit für einen Freund zu schaffen. Einem guten Manne, dem schweres Unrecht zuteil wurde.