Ab morgen im Druck: Frauke Tuttlies: Alles Lüge
An morgen im Druck:
Frauke Tuttlies
Alles Lüge.
Geest-Verlag 2008
ISBN 978-3-86685-166-5
Vorwort
Literatur als Lernprozess eines Miteinanders
Tief hinabblicken in die Verhaltens- und Gefühlwelten von Menschen – auch in eigene – lässt uns die Autorin in diesen elf Erzählungen, einem Mosaik von Persönlichkeiten, das sich in der poetischen Verdichtung jedoch zu einem Mosaik gesellschaftlicher Lebenswirklichkeit erhebt, als deren offensichtlichste Ausprägung ein von der Normalität abweichendes, vielfältiges, buntes Verhalten erscheint. Verhalten wird dabei nicht verstanden als bewusste, politisch-gesellschaftliche Einstellung, vielmehr als Lebensfluss eines gesellschaftlich unbeeinflussbaren Seins. Seien es Henrika, die Sängerin, Rüdiger, der auf dem Sofa hockende Kuckuck oder die anderen Figuren – sie sind so, weil sie so sind, nicht gesellschaftlich, nur individuell, aus ihrer jeweiligen biografischen Besonderheit erklärbar.
Die ProtagonistInnen der einzelnen Erzählungen scheinen uns dabei nach nur wenigen Sätzen durch zielsichere knappe Skizzierungen eigentümlich vertraut, obwohl es Frauke Tuttlies – dies ein Ausdruck ihrer zutiefst humanistischen Ausprägung – dabei gelingt, stereotype Schubladenkategorisierungen zu vermeiden. Jede in die Handlung eintretende Figur besitzt ihre jeweilige Persönlichkeit und behält diese auch im Erzählverlauf. Das Handeln, so die Erzählabsicht, ist nicht zu beurteilen sondern individuell zeichen- und erklärbar und in seiner Bedeutung für den jeweils Anderen bemessbar und in diesem Sinne auch beurteilbar.
Erklärbar, verstehbar, dies scheinen zwei der Schlüsselworte dieses Erzählbandes zu sein. Kaum kenne ich einen Autoren, eine Autorin, die genauer und differenzierter, sensibler und einfühlbarer, mit einem solch ungeheuren Maß an sympathisierender Menschlichkeit beobachtet und analysiert. Dazu bedarf die Autorin einer gewissen Nähe, die sie zu allen wichtigen Protagonisten der Erzählungen entwickelt, wobei die Vertraulichkeit des Teetrinkens ein wichtiges Gestaltungsmoment in beinahe allen Erzählungen ist.
Schreibebene ist das gemeinsam Erlebte, das Vertraute, natürlich zum Teil um literarisch Notwendiges ergänzt oder verkürzt. Kurze und kürzeste Erzählschnipsel, dabei jedes einzelne Wort gewichtend. Manches erinnert an Filmtechniken, kurz, präzise, mit zum Teil besonderen Bildlichkeiten, alles mit einer unglaublichen poetischen Leichtigkeit erzählt, verdichtet.
Und ‚Alles Lüge’? Der auf den ersten Blick irritierende Titel verunsichert, lässt er doch offen, was gelogen ist, die geschilderte Wirklichkeit, die Sichtweise der geschilderten Wirklichkeit, die Sicht der Protagonisten auf die Wirklichkeit. Oder ist es gar unser eigenes Erfassen von Menschen der Wirklichkeit, das hier in Frage gestellt wird. Unsere Fähigkeit zu einem individuell human sympathisierenden kritischen Begreifen, aus dem heraus wir auch uns selbst nur erfassen können, so wie die Autorin sich selbst aus ihrem Werden in der Auseinandersetzung mit den Protagonisten erfasst, wird herausgefordert, wird als Basis eines demokratischen Verstehens gefordert.
Die Illustrationen von Jürgen Schwartz verstärken den Prozess des reflektierenden Erfassens von Persönlichkeit noch einmal, in dem sie unerwartete, überraschende, unkonventionelle, individuelle Blicke am Ende der jeweiligen Erzählungen auf wichtige Protagonisten werfen.
Ein Erzählband, dessen Bilder und dessen Umgang mit Persönlichkeit einen nicht mehr loslässt, dessen sprachliche und inhaltliche Vielfältigkeit sich auch bei mehrmaligem Lesen nicht erschöpft
Alfred Büngen