Anna Hackstedt - Wettbewerb

Anna Hackstedt
Wettbewerb

Ich bin neu an der Schule, kenne mich noch nicht aus. Ein fremder Junge spricht mich an, drückt mir ein Flugblatt in die Hand. »Bundeswettbewerb: Wer ist der größte Vaterlandsverräter?« steht da drauf. Aber was bedeutet das, »Vaterlandsverräter«? Bin ich einer? Kann ich da mitmachen? Gerade öffne ich meinen Mund, um den Jungen zu fragen, da verschwindet er schon um die nächste Ecke. Hmmm, denke ich mir, lese ich erstmal weiter. »Teilnahmeberechtigt: Jeder, der Deutscher ist und sich auf deutschem Boden aufhält«. Das trifft ja schonmal auf mich zu. Bin ich denn auch schon alt genug? Schließlich bin ich gerade erst neun Jahre alt geworden. Ich überfliege das Flugblatt – kei-ne Angaben zum Alter. Dafür sticht mir etwas anderes ins Auge: Es gibt 1000 Plätze zu gewinnen. Wow, das sind aber ganz schön viele. Ich dachte immer, nur die ersten drei Plätze werden ausgezeichnet. So hat man ja viel höhere Chancen. Neugierig lese ich mir die Preise durch: Ein Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz, ein lebenslänglicher Aufenthalt im Massengrab, ein kostenloser Genickschuss. Das ist ja schrecklich. Möchte so etwas wirklich jemand gewinnen? Schockiert lege ich das Flugblatt in meinen Block und gehe zurück zum Unterricht.
Am späten Nachmittag sitze ich zu Hause am Küchentisch und mache meine Hausaufgaben, während Mama kocht. Ich schlage meinen Block auf und finde das Flugblatt wieder, das ich heute in der Schule ausgeteilt bekommen habe. Ich weiß immer noch nicht, was es damit auf sich hat. »Mama«, frage ich also. »Was ist das hier für ein Wettbewerb?« Ich reiche ihr den Zettel. Schlagartig verändert sich Mamas Gesichtsausdruck. »Tommi, wer hat dir das gegeben? Das ist ja grauenvoll! Ich muss sofort bei der Schulleitung anrufen!« »Aber warum denn, Mama? Was ist denn mit dem Wettbewerb?«, frage ich unsicher. »Ach Tommi, du bist noch zu jung, um das zu verstehen. Da haben sich ganz böse Jugendliche einen schlimmen Scherz erlaubt. Geh bitte auf dein Zimmer und mache dort deine Schulaufgaben weiter. Ich muss jetzt telefonieren.« Komisch, denke ich mir, sonst erklärt Mama mir immer alles, wenn ich etwas nicht weiß. Dieser Scherz muss wirklich schlimm gewesen sein.