Annalisa Hartmann - Windgedicht in Bildern

Windgedicht in Bildern

I
Aus der Ferne beobachtet mich eine alte Frau, die aussieht wie die Bergbäuerin aus meinem alten Bilder¬buch. Sie trägt einen dicken, gestrickten Pullover, dazu eine gestreifte Schürze und ein helles Kopftuch. Bloß, die Seiten meines Buches sind bereits vergilbt, wäh¬rend die alte Bäuerin gebräunt und präsent bei der Oldenburgischen Landesbank steht. Ihr Blick ist so eindringlich, dass mir scheppernd alle gesammelten Dialoge auf den Boden fallen. Sprachlos beginne ich, sie wieder einzusammeln.


II
Die Lieblingsbeschäftigung meiner Bergbäuerin war harken. Sie harkte die ganzen Beete einmal von rechts und einmal von links. Und wenn sie damit fertig war, harkte sie auch noch alles Drumherum. Einmal von rechts, einmal von links. Manchmal blieben die Nach¬barn an ihrem Zaun stehen. „Du machst das aber ordentlich“, riefen sie von außen hinein, dann war die Bäuerin glücklich. Und manchmal öffnete sie das Tor, damit die Nachbarn ihre frisch geharkten Beete besser bestaunen konnten. Doch wenn sie sich ihr näherten, wurde die Bäuerin wütend: „Nein, die Wege nicht betreten!“ „Aber dann können wir nicht zu dir kommen“, sagten die Nachbarn. „Wir könnten vielleicht fliegen“, sagte ein Junge.


III
Die Bergbäuerin war Teil eines kleinen, friedlichen Dorfes. Das so lange friedlich war, bis jemand auf die Idee kam, eines der sorgsam bewahrten Geheimnisse weiterzugeben. Das war strengstens verboten. Die ge-fälschten Fotos in den Geschichtsbüchern wurden nie-mals ausgewechselt, die Textlücken niemals aufgefüllt. Obwohl man sie kannte. Nein, man kannte sie nicht. Niemand wusste von diesen Lücken. Und so las auch die Bäuerin ihren Kindern und Kindeskindern aus die¬sen Büchern vor und jeden Abend legte sie sich zufrieden zu Bett. Ihrem friedlichen Dorf konnte nichts passieren.


IV
Die Bergbäuerin hatte viele Hühner, die sehr viele Eier legten. So viele, dass sie selbst über den Dorfrand hinaus verkauft werden konnten. Darüber freute sich die Bäuerin. Nur, manchmal spazierten die Hühner selber über den Dorfrand, denn manche hatten herausgekriegt, wie man die Käfigtür öffnete. Von dem Geld, das sie mit den Eiern verdiente, kaufte die Bäuerin deshalb immer wieder neue Hühner und nach und nach vergrösserte sie den Käfig.