Barbe M. Linke - Spaziergang am früher Abend
Spaziergang am früher Abend
Barbe M. Linke
Zwei weiße Flecken auf dem See.
Ein Blässhuhn im bräunlich-grauen Schilf, der heisere Schrei: hra, hra.
Im Toten Baum, in der obersten Spitze, ein Seeadler.
Er schweigt, lässt sich fallen, breitet seine Schwingen aus, fliegt über
den See, in den Dunst, der ihn frisst.
Buchen, gerade gewachsen, klirren mit ihren Zungen.
Rehe, die Beine in der Luft.
Schwärme von Vögeln hoch oben.
Sie schweigen, reden kein Wort.
Die uralte Eiche, ohne Blick, mit geschlossenen Ohren, im Abendwind.
Würde sie reden, mir ihre Arme, die Hände entgegen strecken ...
Ach, ewiges Wozu und Warum und Wieso
Deshalb öffnen sie
ihre Arme nicht
deshalb bleiben stumm
deshalb fliegt der Adler auf
und davon
Sie schweigen. Wie das Dorf, dass seine Mütze über Ohren und Augen zieht.
Wovon reden die Menschen in den vier Wänden?
„Hier findet täglich der gewöhnliche Faschismus statt!“ Höre ich den Dichter, der Auschwitz überlebt hat, sagen. Wir fuhren durch die Frankfurter Allee, an beleuchteten Wohnblocks vorbei.
Faschismus, sagt Franza, ist das, was mir das Fossil antut; die Enteignung des Eigenen. Des wichtigsten Teils im Menschen.
(frei nach Ingeborg Bachmann ‚Der Fall Franza‘)