Cornelia Eichner - Frau Keuner, der kalte Kaffee und das kleine Lied

Frau Keuner, der kalte Kaffee und das kleine Lied
für T. A.

Frau Keuner wollte sich am Montag eigentlich in der Stadt ein neues Kleid kaufen. Stattdessen erschütterte der Ruf „Widerstand! Widerstand!” den kalten Kaffee, den sie im Becher durch die Kreuzstraße trug. Als sie einen Polizisten fragte, was denn hier los sei, und dieser ihr sagte: „Haben Sie Mut, gehen Sie hin!”, wollte sie in irgendeine Bahn flüchten, doch es fuhr keine. Sie lief, bis die Vibrationen in ihrem Kaffee nachließen, wartete schließlich an der über-nächsten Haltestelle. Die Bahn war gut gefüllt, nur bei den beiden dunkelhäutigen Frauen waren noch zwei Plätze frei, also setzte sich Frau K. dort – und hörte es zuerst: Eine der beiden Frauen sang leise „Alle Menschen werden Brüder”, mit gesenktem Blick und flatternder Stimme im zittrigen Leib, die andere drückte ihre Hand, dann schaute sie Frau Keuner mit großen, schwarzen Augen an und begann eben-falls zu singen: „Seid umschlungen Millionen!”
Was tat Frau Keuner? Sie antwortete: „Diesen Kuss der gan-zen Welt”, und noch ehe die Zeile endete, hatten sich weite-re Stimmen eingefügt. Der stolze Chor ließ die Bahn vibrie-ren und so konnte die dunkelhäutige Frau ihren Blick erhe-ben.