Dirk Röse - Spieglein, Spieglein an der Wand



Spieglein, Spieglein an der Wand ...

 

Liebe Leserin, lieber Leser aus Deutschland. Auch du bist Russland. Das Leben, das du hierzulande führst, ist russisch. Es ist russisches Erdgas, das dich wärmt und das die Wirtschaft in Gang hält, damit du weiterhin alles kaufen kannst, was dir das Leben angenehm macht, auch die Medikamente, die du brauchst. Russisches Gas ist für dein Leben unverzichtbar, wenn du nicht verzichten möchtest. Dasselbe gilt für russisches Erdöl. Dein Leben wird ohne russisches Öl ärmer, weil es dein Auto und die Produktion deines Arbeitgebers am Laufen hält. Bereits jetzt ist dein Leben ärmer, weil du sehr viel mehr Geld für Öl und Gas zahlst. Du spürst es an der Zapfsäule, du wirst es bei den nächsten Nebenkostenabrechnungen merken. Und das alles würde noch sehr viel schlimmer für dich kommen, wenn du auf Öl und Gas aus Russland verzichten müsstest. Sei deiner Regierung dankbar, dass sie sich nicht dazu drängen lässt, fossile Brennstoffe aus Russland zu boykottieren.

 

Liebe Leserin, lieber Leser aus Deutschland. Auch du bist die Ukraine. Du deckst dich mit Sonnenblumenöl und Mehl ein, weil du nun endlich gelernt hast, woher sie kommen. Weil sie aus einem Land kommen, in dem Krieg herrscht, ist unsicher, ob sie dir auch weiterhin uneingeschränkt zur Verfügung stehen. Also denkst du erst einmal an dich selbst, bunkerst Grundnahrungsmittel und wirfst sie anschließend massenhaft weg, wenn das Verfallsdatum erreicht ist und du sie gar nicht gebraucht hast. Auch die Menschen, die dir jetzt im Nahverkehr und im Supermarkt begegnen, kommen aus dem Land, das dich nicht mehr zuverlässig beliefern kann. Es ist aber gut für das eigene Gewissen, dass wir sie hier jetzt verlässlich versorgen können. Hier gibt es ja genug für alle und du hast lieber osteuropäische als afrikanische Flüchtlinge um dich, solange dir die Ukrainerinnen im deutschen Supermarkt nicht das ukrainische Sonnenblumenöl vor der Nase wegschnappen. Sei deiner Regierung und den vielen Freiwilligen dankbar, die auch dein reines Gewissen organisieren.

 

Liebe Leserin, lieber Leser aus Deutschland. Auch du bist der Krieg. Du spürst es im Geldbeutel und siehst es im Fernsehen, das etwas aus den Fugen gerät, das deinem Leben bislang Sicherheit gab. Dein Öl und Gas waren bislang ein Klimaschutzthema, um das sich deine Regierung kümmern musste. Jetzt sind dein Öl und Gas tödlich, weil du damit Russland und Russlands Krieg gegen die Menschen in Mariupol und Butscha finanzierst, um keine Engpässe in deinem Lebensstil zu erleben. Sei deiner Regierung dankbar, die Waffen in die Ukraine schickt, damit die Männer dort kämpfen und sterben, um bald wieder Sonnenblumenöl und Mehl für dich produzieren zu können.

 

Liebe Leserin, lieber Leser aus Deutschland. Auch du bist zynisch. Du bist Teil einer globalisierten Welt, in der alle voneinander abhängen. Es ist Wladimir Putin, der dir dein gutes Leben ermöglicht. Und du kannst ihm nicht entkommen, weil du es weiterhin bequem haben möchtest. Damit du weiterhin unbeschwert lebst, verzichtest du auf Moral und Idealismus und Gradlinigkeit. Du verachtest Russland und stehst morgens behaglich unter der russisch beheizten Warmwasserdusche. Sollen sie sich da hinten gegenseitig verstümmeln, solange du warme Füße hast und es nicht dein Sohn ist, der an die Front muss. Und du weißt genau, dass Wladimir Putin erst dann die Atombombe zündet, wenn du sein Gas nicht mehr willst. Solange du es dir aber gut gehen lässt, trägst du aktiv zum Gleichgewicht der Mächte und zum Frieden in der Welt bei. Sei deiner Regierung dankbar und klopf dir selbst auf die Schulter, denn das ganze Gehampel dient ja doch einem guten Zweck und ergibt wirklich Sinn. Im Grunde ist die Ukraine nur ein Kollateralschaden für die Stabilität unserer heiligen Ordnung, der dort begrenzt werden muss, wo er dir nicht weh tut.


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