Es geht auch anders - Reinhard Rakow erinnert an Gustav Heinemann
"Viel verdienen, Soldaten, die das verteidigen, und Kirchen, die beides segnen." — 1. Dezember 1966: Gustav Heinemann wird Justizminister der Großen Koalition
Die Berufsarmee ein "Friedensmotor", Auslandseinsätze "notwendig und sinnvoll", ihre Soldaten "Mutbürger in Uniform" — ein halbes Jahr nach seinem Antrittsbesuch bei der Bundeswehr, einen halben Monat vor der ersten Weihnachtsansprache von Joachim Gauck erinnert man sich in wilder Wehmut der widerständigen Integrität eines Gustav Heinemann, der nach seiner Wahl zum Bundespräsidenten Wert darauf legte, "lieber ein Bürgerpräsident" zu sein als ein Staatspräsident.
Und für huld- und salbungsvoll scharwenzelnde Wehrpredigten gewiss nicht zur Verfügung gestanden hätte. Nicht nur Heinemanns berühmt gewordene Antwort auf die Frage, ob er diesen Staat denn nicht liebe, "Ach was, ich liebe keine Staaten, ich liebe meine Frau; fertig!", rechtfertigt diese Annahme. Unverbiegbar seinen moralischen Wertungen verpflichtet hatte sich Heinemann gegen die Remilitarisierung der Bundesrepublik positioniert, als Innenminister der Regierung Adenauer deshalb seinen Hut genommen, den Austritt aus der CDU erklärt und (zusammen mit Erhard Eppler, Helmut Gollwitzer, Helene Wessels u.a.) eine neue Partei gegründet, die Gesamtdeutsche Volkspartei, anlässlich deren Gründung er die "Überhöhung der Kanzlerpolitik zu einer Politik der christlichen Einheitsfront" mit dem Diktum geißelte: "Sieht man denn wirklich nicht, dass die dominierende Weltanschauung unter uns aus den drei Sätzen besteht: Viel verdienen, Soldaten, die das verteidigen, und Kirchen, die beides segnen?!"
Gustav Heínemann, 1899 geboren, entstammte einfachen Verhältnissen. Eltern und Großeltern waren republikanisch bis linksliberal patriotisch gesinnt, er selbst rieb sich bereits als Schüler am herrschenden Untertanengeist. In den Zwanzigern wurde er doppelt promovierter Jurist. Er heiratete Hilda Ordemann, die bei Rudolf Bultmann evangelische Theologie studiert hatte. Über ihre Kontakte zu Karl Barth engagierte er sich während der Nazizeit zunächst offziell, später im Verborgenen für die Bekennende Kirche. Heinemann gehörte zu den Mitunterzeichnern des "Stuttgarter Schuldbekenntnisses" der Evangelischen Kirche vom Oktober 1945 und nahm fortan innerkirchliche Aufgaben wahr.
Als Politiker kämpfte Heinemann Anfang der Fünfziger gegen die Wiederbewaffnung, später, zum Ende der Fünfziger, mittlerweile als Mitglied der SPD, gegen die von Adenauer und Strauß geplante Atombewaffnung der Bundesrepublik. Adenauers Szenario, die entscheidende Frage sei, "ob Deutschland und Europa christlich bleiben oder kommunistisch werden", hielt er entgegen: „Es geht nicht um Christentum gegen Marxismus. Es geht um die Erkenntnis, dass Christus nicht gegen Karl Marx gestorben ist, sondern für uns alle!" Von notwendiger Verteidigung könne keine Rede sein, denn die modernen Massenvernichtungswaffen ließen eine Begrenzung ihrer Wirkung gar nicht zu: „Ich nenne die Atomwaffen Ungeziefervertilgungsmittel, bei denen diesmal der Mensch das Ungeziefer sein soll."
Auf Vorschlag Willy Brandts ernannte Kiesinger Heinemann am 1. Dezember 1966 zum Justizminister der Großen Koalition. In dieser Funktion zeichnete er verantwortlich für eine umfassende Strafrechtsreform, auch des politischen und des Sexual-Strafrechts, u.a. wurde die Bestrafung homosexueller Liebe abgeschafft. Einer — von einschlägig interessierten Kreisen gewünschte — Verjährung bei Mord widersetzte er sich, Zuchthausstrafen und Freiheitsstrafen bei Bagatelldelikten wurden abgeschafft, der Gedanke der Resozialisierung zog in das Strafrecht ein.
Als (dritter) Bundespräsident war Gustav Heinemann von 1969 bis 1974 im Amt. In seiner Antrittsrede bekannte er: „Überall müssen sich Autorität und Tradition die Frage nach der Rechtfertigung gefallen lassen (…) Nicht weniger, sondern mehr Demokratie – das ist die Forderung, das ist das große Ziel, dem wir uns alle und zumal die Jugend zu verschreiben haben. Es gibt schwierige Vaterländer. Eines davon ist Deutschland. Aber es ist unser Vaterland." Immer wieder zog Heinemann als "Bürgerpräsident" Lehren aus der deutschen Geschichte, gedachte der Opfer der Nazizeit, erinnerte an deutsche Freiheitsbewegungen, wies hin auf Minderheiten und Ausgegrenzte. Menschenwürde, Gerechtigkeit und Frieden waren seine steten Themen. Pensionszahlungen seines früheren Arbeitgebers stellte er über einen Fonds Bedürftigen zur Verfügung; u.a. unterstützte er so die Familie des verletzten Rudi Dutschke bei ihrem Umzug nach England. 1970 gründete sich auf seine Initiative die Deutsche Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung (DGFK), an der u.a. die Spitzenverbände der Sozialpartner, der christlichen Kirchen und der Zentralrat der Juden in Deutschland beteiligt waren (— bis ihr 13 Jahre später Helmut Kohl die Gelder strich).
Als Gustav Heinemann 1974, zwei Jahre vor seinem Tode, aus dem Amt schied, verzichtete er zugunsten einer Bootsfahrt auf den Großen Zapfenstreich. Der Bundeswehr, mit der er zu offiziellen Anlässen loyal zusammenarbeitete, hatte er zuvor zweierlei ins Stammbuch geschrieben: Erst, dass eben nicht der Krieg der Ernstfall sei, "sondern der Friede, in dem wir alle uns zu bewähren haben", dann, dass "jede Bundeswehr bereit sein (muss), sich um einer besseren politischen Lösung willen in Frage stellen zu lassen."
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Reinhard Rakow
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