Gabi Anders - Neujahr 1990.ein Bericht

Neujahr 1990 – ein Bericht

Parolen wie „Freiheit statt Sozialismus“, „Jesus lebt, Karl Marx ist tot“ beherrschen die Massenmedien. In der Öffentlichkeit fällt es kaum auf, dass die CSU als erste westdeutsche Partei ihre Klausurtagung von Kreuth nach Leipzig ver-legt, in den brodelnden Kessel der Montagsdemonstratio-nen.
Auf einem Silvesterfest beschließen 25 Frauen und Männer, den Neujahrstag mit einer politischen Aktion zu beginnen. Sie treffen sich morgens vor der CSU-Zentrale in der Nymphenburgerstraße in München, setzen sich auf den Boden und blockieren den Eingang. Auf Pappschildern zeigen sie ihre Losungen: „Nie wieder Deutsches Reich“, „Gegen die Geburtshelfer eines 4. Reiches“, „CSU in Leipzig – nein“.
Menschen unterbrechen ihren Spaziergang, Autofahrer blei-ben stehen. Nach 15 Minuten trifft die Polizei ein und regis-triert ein Lied:
„... Wir wollen Frieden und werden uns rüsten.
Nieder mit Kohl und den Bonner Revanchisten!
Schon planen wieder die Grenzverschieber
die deutsche Einheit jetzt als neues Kriegskaliber.
Im Osten und Westen
alle zugleich:
Wir kämpfen gegen ein großdeutsches Reich ...“
Mehr als eine Stunde dauert es, bis die Polizei ihre Arbeit getan hat. Bis alle Menschen, die gegen die aggressive Vereinnahmungspolitik der CSU symbolisch den Weg versperrt haben, in VW-Busse geladen sind, samt einer Rentnerin und einigen anderen ZuschauerInnen, denen ihre Sympathie zu deutlich auf das Gesicht geschrieben steht. Ein Mann wird dabei so heftig an die eiserne Rücklehne des Polizeifahrzeugs geworfen, dass er bewusstlos zusammensinkt. Erst energische Proteste veranlassen die Beamten, einen Krankenwagen zu rufen. Die Polizeibusse sind voll mit Verhafteten.
Ich bin eine davon. Im Konvoi fahren wir schließlich an dem Polizeipräsidium an der Ettstraße vor. Nach einigen Minuten des Wartens wird die Tür aufgerissen, ein Polizist fasst mich am Arm und holt mich aus dem Bus, ein zweiter greift mei-nen anderen Arm. Allein, gehalten von den beiden Beamten, betrete ich das Gebäude. Die Männer dirigieren mich die Treppe hoch. Keiner sagt, was geschehen würde. Im ersten Stock machen wir halt. Ein circa 25 Meter langer, gewölbter Gang, erhellt von Neonröhren, tut sich vor mir auf. Zwei Schiebegitter unterteilen ihn und bilden eine Gemeinschaftszelle für die Verhafteten. Auf der einen Seite des Gitters geht ein Polizist auf und ab, auf der anderen Seite steht eine größere Gruppe von Beamten. Sie beobachten uns oder vertreiben sich die Zeit mit Späßen.
Vier Stunden verbringen wir in diesem Käfig. An die Wand gelehnt, wartend, kriecht die Kälte des Steinbodens in meine Glieder. Ich will weg von diesem Ort – keiner weiß, was wei-ter passieren wird. Ich will allein sein – jede unserer Bewegungen wird registriert. Ich habe Durst – nichts gibt es. Selbst der Drang, die Notdurft zu verrichten, wird bei den Frauen zur Schikane benutzt. Fünfzehn Minuten muss die Erste warten, bis ihre männlichen Bewacher sie zur Toilette führen. So stehen wir also, an die feuchten Mauern gelehnt, fixiert von unseren Bewachern, vier Stunden, die wir nicht mehr vergessen.
Einen 15-jährigen Jungen holen sie zum Verhör. Sein Vater, ebenfalls verhaftet, verlangt, dabei zu sein. Sein Recht wird ihm verwehrt.
Zwei Polizisten bringen mich schließlich zu einer Tür mit der Aufschrift „Haftanstalt“. Ein Beamter schreibt auf verschiedene Formulare meinen Namen, er nimmt mir die Handtasche, den Gürtel, einen Schal und die Schnürsenkel ab. „Sie könnten sich damit ja verletzen“, sagt er. Meiner persönlichen Habseligkeiten beraubt, führt mich eine Vollzugsbeamtin in einen anderen Gang. Sie bietet mir trockenes Brot und Tee an. Ich lehne ab. Im ersten Stock sperrt die Frau eine schwere Eisentür auf. Dahinter verbirgt sich eine Zelle für etwa zehn Personen, sieben Frauen befinden sich bereits darin. Elektrisches Licht blendet, die Wände sind grau und schmutzig, noch abstoßender wirken die Pritschen aus alten, schweren Holzbalken ohne jegliche Auflage, an den Wänden darüber hängen Eisenhaken. Eine Mitgefangene lässt die Pritsche auf den Boden knallen, es kracht. Jemand lacht. Ein Becken an der Wand mit einer schmutzigen Kanne darin, ohne Wasserhahn, gefüllt mit Abfall, sowie eine Toilette, halb nur abgetrennt von der Zelle, drei Fenster an der Decke und eine mit Holz und Plastik verkleidete Heizung – das ist die Ausstattung der Zelle. Es riecht nach Abfall, Urin und feuchter, kalter Luft.
Nach etwa einer Stunde holt mich die Vollzugsbeamtin wieder, ein Stockwerk tiefer „übernimmt“ mich ein Mann mit gedrungener Gestalt, lauerndem Blick, Halbglatze, pickelübersätem Gesicht und feuchten Händen. Er schiebt mich an die Wand und misst meine Größe, danach muss ich auf die Waage steigen. 50 kg, schreibt er. Er veranlasst mich, sich neben einen Schreibtisch zu setzen, grelles Licht blendet. Er verlangt das linke Profil zu sehen, das rechte, meine Ohren, Zähne, Hände und vermerkt alles in seinem Formular. Eine Mitgefangene flüstert mir auf dem Gang zu: „Hast du seine Augen gesehen?“ Ich werde einem anderen Beamten über-geben. Dieser weist mich an, mir an einem grau verschmier-ten Waschbecken die Hände zu reinigen. Danach fasst er jeden Finger an und presst ihn abwechselnd in schwarze Farbe und auf ein Formular, dazu sagt er: „Die Finger ganz locker lassen bitte, ganz entspannt halten.“ Eine Rentnerin kommt nach mir. Die Frau wehrt sich dagegen, ihre Finger in die Farbe zu tun, sie habe eine Hautkrankheit, klagt sie. Der Beamte hält inne, betrachtet die Frau, zieht sich Handschuhe an und greift wieder nach den widerstrebenden Fingern.
Nach dem Fotografieren werde ich an einen Kriminalkom-missar weitergereicht. Die Tür der Haftanstalt schließt sich. Ein Lift bringt uns in ein anderes Stockwerk. Der Kommissar trifft einen Kollegen und unterhält sich mit ihm über seinen Festtagsbraten und die Störung, die ihm nun durch die Ar-beit widerfahren sei. Beide rechnen die Jahre aus, die sie noch Dienst tun müssen bis zu ihrer Pensionierung, danach verabschieden sie sich freundschaftlich. Wieder geht es durch lange, schwach beleuchtete Gänge. Endlich hält der Beamte vor einer Tür, sperrt auf und schiebt mich hinein. Während er auf seinem Arbeitstisch die Akten zurechtsucht, schaue ich mich um. Enge herrscht hier, zwei große, abge-nutzte Schreibtische, Aktenschränke, ein vielleicht 20 Jahre altes Radio, ein Werbegeschenk-Kalender, Zeitungskarikatu-ren auf vergilbtem Papier. Der Kommissar fordert nun Aufmerksamkeit. Die Antworten fallen spärlich aus und so versucht er, Interesse zu bekunden. Da ich aber die Entschei-dung getroffen habe, nichts, aber auch gar nichts freiwillig dazulassen, weder Unterschrift noch Aussage, bleibt er erfolglos. Er hämmert wenige Ziffern und Buchstaben mit beiden Zeigefingern unbeholfen in die mechanische Schreibmaschine, zieht das Formular heraus, vergleicht es mit meinem Ausweis und erklärt mich für entlassen. Noch einmal gehe ich zurück in die Haftanstalt, um den Gürtel, die Schnürsenkel, den Schal und meine Handtasche zu holen. Erst als sich die schwere Tür hinter mir schließt und ich die klare, kalte Nachtluft einatme, glaube ich, dass ich entlassen bin. Es ist gegen 22 Uhr. Meine Kinder, neun und fünf Jahre alt, und mein Mann, die ich nicht hatte verständigen dürfen, erwarten mich auf der Straße.