Geht in die Autorenkorrektur: A. Kadir Özedimir Ein Fenster in die Welt

A. Kadir Özedimir

Ein Fenster in die Welt

Roman

Geest-Verlag 2011

 

 A. Kadir Özdemir, der sich als Sachbuchautor mit mehreren Veröffentlichungen in den letzten Jahren einen Namen gemacht hat, beschreibt nunmehr in seinem auto¬biografisch angelegten Roman ‚Ein Fenster in die Welt’ die ersten 18 Lebensjahre eines Jungen aus Anatolien, der, zusammen mit seiner Mutter und seiner Schwester, von seinem „Gastarbeiter-Vater“ nach Braunschweig geholt wird.
Es gelingt dem Autor mit diesem Band, grundlegende Fragestellungen der Migrationsproblematik in Deutschland aus Sicht der Betroffenen einfühlsam darzustellen. Dabei werden inhaltliche und gefühlsmäßige Aspekte deutlich, die in der offiziellen Migrationspolitik völlig außer Acht gelassen werden, es wird die Bereitschaft zur Akzeptanz des ‚östlichen Fremden’ in unserer Gesellschaft sogar grundsätzlich in Frage gestellt.
Von einem Tag auf den anderen wird die Titelfigur des Romans in eine ihm völlig fremde Welt gestoßen, eine Welt, deren Sprache er nicht beherrscht, deren graue Farbe ihn abschreckt. „Alles war neu und niemand kannte einen. Hier waren die Straßen gepflastert, die Häuser standen dicht beieinander und hatten mehr oder weniger alle den gleichen aufgelegten Farbton: Beige-Grau!“ Doch zugleich bemerkt der Junge ein anderes Gefühl: „Mein Herz schlug schneller, und ich fühlte mich wie auf dem Jahrmarkt. Es war ein berauschendes Gefühl, dieses Fremdsein.“
Ein Gefühl, das ihn Zeit seines Lebens nicht mehr verlässt. Er lässt sich ein auf das Fremde, will es entdecken, erleben, will an ihm teilhaben.
Doch er steht bei diesem Entdeckungsprozess weitgehend ohne Hilfe da. Niemand hilft ihm, diese Welt und ihre Menschen zu verstehen, ihr Handeln zu begreifen. Der Vater ist fast ausschließlich mit der Arbeit beschäftigt, meldet ihn aber bewusst auf einer Schule mit geringem Ausländeranteil an. Die Mutter bleibt ihm zwar stets als Ansprechpartnerin, doch ist sie selber emotional damit beschäftigt, einen Weg in ihre neue Situation zu finden. Allenfalls die ältere Schwester ist ihm eine Gesprächs¬partnerin, auch die Tochter des Freundes des Vaters. Die Schule, die Lehrerin ignorieren ihn. Und schon nach kurzer Zeit droht seine Lust auf dieses Fremde zerschlagen zu werden. „Die Stille legte sich über meine Seele, schleichend wie die ersten Sandkörner, die eine Wüste ankündigen. Gefangen in einer unangenehmen Zeit wünschte ich mir, irgendwo zu sein, nur nicht hier.“
Mit aller Sensibilität beschreibt der Autor die Mechanismen des Alltags dieses Jungen, die nicht nur ihn als Fremden ausgrenzen. Seine ältere Schwester, die in der Türkei das Gymnasium besucht hatte, wird einer Hauptschule zugewiesen, dort gefeiert, weil sie die einzige Schülerin ist, die Französisch als Fremdsprache beherrscht. Dass sie auch Arabisch spricht und Türkisch, nimmt man nicht zur Kenntnis. Dieser Abwertung ‚östlicher Kultur’ begegnet er in den darauf folgenden Jahren des Lebens in Braunschweig immer wieder.
Er lernt einen russlanddeutschen Jungen aus einem problemgeladenen Elternhaus kennen, der ihm zum Freund wird, auch wenn sich ihre Lebenswege eines Tages trennen werden. Zutrauen fasst er zudem zur Tochter eines Freundes des Vaters. Gemeinsam versuchen sie zu verstehen, warum ihre Väter fremdgehen, wie die Mütter dies verarbeiten. Zudem bleibt noch eine indische Schulfreundin, zu der in späteren Jahren eine größere Nähe findet. Letztlich aber steht er allein und versucht, einen Weg zu sich selbst zu finden in einem Leben zwischen zwei Kulturen. Das Fenster zur Welt liegt, so stellt er mit der Flucht aus dem kleinbürgerlichen Milieu Brauschweigs fest, im Bekenntnis zu sich selbst. Damit findet er die Lust auf das Entdecken an der Fremde wieder.
Geschickt montiert der Autor zwischen die erzählerischen Passagen, die sich durch eine schlichte und direkte Sprache mit zum Teil intensiven Bildlichkeiten auszeichnen, stärker sachorientierte Teile ein, die den Leser in eine direkte Auseinan¬dersetzung mit grundlegenden Fragen der Migration bringen, ihn dazu zwingen, eigene Vorurteile zu reflektieren. Vor allem aber machen sie ihn darauf aufmerksam, dass es sich bei der vorliegenden Erzählung um die alltägliche Wirklichkeit der Bundesrepublik handelt.
Ein Roman, der aufgrund seiner sprachlichen und inhaltlichen Intensität sicherlich zu einer der einfühlsamsten und zugleich inhaltlich wichtigsten Veröffentlichungen im Migrationsbereich gehört. Er ist zur Lektüre sowohl für den Erwachsenen- als auch den Jugendbereich geeignet. Insbesondere auch im Schul- und Jugendbildungs-sektor ermöglicht er weiterführende Diskussionen um die Migrationsproblematik in der Bundesrepublik Deutschland.