Hannelore Imsande, Erich Mühsam – Gegen Ungerechtigkeit und Unkultur
Hannelore Imsande, Leer
Erich Mühsam – Gegen Ungerechtigkeit und Unkultur
„Jeder, der Opfer ist, gehört zu uns! Ob unser Leib Mangel leidet oder unsre Seele, wir müssen zum Kampfe blasen! – Gerechtigkeit und Kultur – das sind die Elemente der Freiheit!“
Dieses Zitat des Schriftstellers und Publizisten Erich Mühsam (1878-1934) stammt aus seinem Essay „Ap-pell an den Geist“. In seinem Text geht er auf die Rol-le der Künstler in der Gesellschaft ein. Diese sollen laut Mühsam nicht die Augen verschließen vor Missständen. Im Gegenteil! Künstler und Literaten sollen sich in ihren Werken und in ihrem gesellschaftlichen Engagement mit Geist und Herz für Gerechtigkeit und Kultur einsetzen.
Nur wenige Menschen treten menschenverachtenden Zuständen aktiv entgegen. Nach Mühsams Ana-lyse sind viele Menschen so sehr auf den Kampf um materielle Güter fixiert, dass sie dabei die Menschlichkeit und das Wohl aller Menschen aus den Augen verlieren. Der Schriftsteller umschreibt dieses Verhal-ten als eine groteske Balgerei um die größte Kartoffel.
Unter den Künstlern und Literaten seiner Zeit sieht der Publizist viele, die in ihren Werken keinen Bezug auf Ungerechtigkeiten im Umgang mit Minderheiten oder politische Entscheidungen, die ein ganzes Volk ins Elend stürzen können, nehmen. Mühsam spricht von dem fehlenden Brudergefühl. Der Autor rät den Kunstschaffenden, sich nicht für besonders zu hal-ten. Nach Mühsams Auffassung sind Künstler und Literaten Menschen wie alle anderen auch.
Zu Mühsams Zeit waren die strafrechtliche Verfol-gung von Homosexuellen und die Vorbereitung und der Verlauf des Ersten Weltkriegs gesellschaftliche Bedrohungen. In seinem Traktat „Die Homosexualität – Ein Beitrag zur Sittengeschichte unserer Zeit“ befasste sich Mühsam 1903 mit der Ächtung von Ho-mosexuellen. Der Autor setzte sich für die Aufhebung des § 175 ein. Dieser sogenannte Schwulenparagraf stellte sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe.
Während des Münchner Januarstreiks der Muniti-onsarbeiter im Januar 1918 hatte Mühsam die Arbei-ter zur Revolution aufgerufen. 1919 folgte deswegen ein Hochverratsprozess gegen ihn. Er wurde zu einem mehrjährigem Gefängnisaufenthalt verurteilt.
Das Vorbild der Künstler und Literaten, die sich zum Wohle aller Menschen und besonders von ungerecht behandelten Menschen einsetzen, kann auch in Politik, Kirche oder Sport Unterstützer finden. Eine nicht zu unterschätzende Möglichkeit der Einflussnahme haben heute auch die sogenannten sozialen Netzwerke, die es zu Mühsams Zeiten noch nicht gab.
Ein aktuelles Beispiel für die Ausgrenzung von Ho-mosexuellen in unserer Zeit kam am 15. Juni 2021 aus Ungarn. Das ungarische Parlament beschloss ein Gesetz, dass in Büchern für Kinder und Jugendliche nur noch heterosexuelle Sexualität dargestellt werden darf. Auch Werbung, in der Homosexuelle oder Transsexuelle gezeigt werden, wurde mit diesem Gesetz verboten.
Gegen diese homosexuellenfeindliche Zensur gab es nicht nur Kritik von Verbänden der LGBT-Gemeinde, von Menschenrechtsorganisationen und Journalisten. Der Vorsitzende der Roma und Sinti Romani Rose kündigte die Rückgabe seines Verdienstordens an Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán an. Der Auslöser für Roses Reaktion war eine Rede des luxemburgischen Ministerpräsidenten Xavier Bettel im Rahmen des EU-Gipfels. Bettel hatte gesagt, dass er schwul sei, sei keine Entscheidung gewesen. Er sei es eben.
Mitte März 2021 verbot der Vatikan die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare. Zahlreiche Pfarrer in Deutschland boten dennoch Segnungen für homosexuelle Paare an. Kirchen wurden mit Regenbogenfahnen geschmückt und Unterschriften gegen dieses Verbot gesammelt. Unter dem Hashtag #liebegewinnt kam im Internet eine Gegenbewegung für Segnungen gleichgeschlechtlicher Paare in Bewegung. Die Kölner Band BRINGS kreierte aus Solidarität das Lied „Die Liebe gewinnt“.
Jeder Mensch kann für mehr Gerechtigkeit und einen kultivierteren Umgang miteinander eintreten. Vorbilder gibt es genug. Erich Mühsam zählte sicherlich zu den couragiertesten und selbstlosesten. Er wurde 1934 im Konzentrationslager Oranienburg ermordet.