Helena Haselsteiner - Rachenhinterland
Helena Haselsteiner
Rachenhinterland
Die Ungeduld, etwas von dem Leben zu ergreifen, bevor es wieder davonschwimmt. Wie auf einer Eisscholle. Etwas, das vielleicht Momente im Leben so an sich haben – sie schwimmen davon, bevor man sie festhalten kann. Und dann fragt man sich, wohin sie sind, aber die Eisscholle ist bereits geschmolzen, und nun träufelt sie in das Becken Wasser, in dem sich die Erinnerungen als einzige Masse sammeln – so flüssig, dass sie nur durch die Finger rieseln, versucht man sie zu greifen.
Das ist das Leben, als sie zwanzig wird und Heimat nicht mehr das eigene Kinderzimmer sein kann, weil sie nun erwachsen ist. Die neue Stadt ist groß, die Menschen viele und der Lärm laut, und doch kann sie die Überfülle an Eindrü-cken kaum berühren, viel mehr überrumpeln sie sie. Und plötzlich ist es mitten da, das Leben und das Studium und die unverpflichtende Freiheit, die einen doch nicht so frei fühlen lässt; denkt man nur daran, was man alles sein will oder soll, dass die Zeit, die einem gerade zur Verfügung steht, so kurz scheint und einem doch immer nur die Frage kommt, ob man sie richtig nutzt, ob man am richtigen Ort mit den richtigen Leuten ist, wo es doch so viele Orte und so viele Leute gibt. Und sie fragt sich, wie sich das anfühlen sollte, wenn es richtig ist, und ob sie das nicht merken sollte, wie ein lautes, klares Ja. Stattdessen mischen sich da immer diese Gedanken unter: Könnte sich der Moment, in dem ich gerade glücklich bin, an einem anderen Ort noch glücklicher anfühlen?
Der Ort, in dem sie aufwuchs, wo sie ihre gesamte Kind-heit und Jugend verbrachte, wurde von ihr Rachenhinterland genannt. Eine etwa 13 000 Einwohner reiche Gegend mit altem Ziegelstein-Leuchtturm, langen Strandpromenaden, an denen es am ganzen von Fischereiholzbuden gesäumten Weg nach Fischbrötchen roch. Ein altes Spielcasino, das in-zwischen längst als Wellness-Hotel diente und dessen gutgekleidete Besucher ihr Opa verabscheute. In ihrer Kindheit hätte sie sich an den dümpelnden Booten im Hafen, den Möwen, die in der Nachmittagssonne am Steggeländer hockten, und den kleinen Backsteinsiedlungen sattsehen können. Es war der kleine schöne Lübecker Stadtteil Travemünde, wo Elfie lebte, aufwuchs und zur Schule ging und den sie, außer um ab und zu die Großeltern in Hamburg zu besuchen, kaum verließ.
Es war damals im Biologieunterricht, als Elfie zwölf Jahre alt war. Es ging um Anatomie und die einzelnen Fachbegriffe für Knochen und Gelenke, da wurde Elfie stutzig, als sie während des Beschriftens von Körperteilen am Gesicht ange-langt war und auf einer Zeichnung die einzelnen Teile des Mundes beschriften musste: Gaumen, Zäpfchen, Zunge, Rachenhinterwand. Rachenhinterwand. Für ein paar Momente hielt sie inne und begann, mit ihrer Zunge den Innenraum ihres Mundes zu befühlen. Rachenhinterwand – der Bereich, zu dem alles zusammenlief, zu dem Gaumen und Wangen und Zunge führten. Fast wie eine Mündung, wie eine alles-empfangende Bucht. Und sie kam nicht umhin, daran zu denken, dass die Mündung der Trave wie diese Rachenhinterwand war, eine Einbuchtung zwischen den Ufern der Ost-see. Von da an, da sie das erkannte, war Travemünde das Rachenhinterland – ein Ort, den alles erreichte, eine Heimat, zu der alle Wege zurückführten, die aber selbst nicht viel Platz zum Austreten ließ.
Elfie war eine gute Schülerin. Im Nu, sagte ihre Lehrerin zu ihr, als sie im Deutschunterricht das auswendig gelernte „Böhmen liegt am Meer“ vortrug – stolz wiederholte sie die beiden kleinen Wörter zuhause. Im Nu. Und ihre Mutter strich ihr sachte über den blonden Haarschopf.
Es war an einem lauen Abend, ihr Opa und sie am Hafensteg neben den wie die Zähne eines Kamms aneinandergereiht wippenden Booten sitzend. Die beiden an der Kammspitze ließen ihre Beine baumeln, das Meer zu ihren Füßen gluckste an den moosbegrünten Stegpfeilern, ein Treiben an den Uferwegen und Stränden verlautete den sommerlichen Feierabend. Emporragende Segelmaste kratzten das letzte Blau vom Himmel, das schon einem dämmernden Rot wich. Ab und zu kam ein Boot seinem Nachbarboot so nah, dass auch sie in ihrer Berührung einen dumpfen Klang von sich gaben, und in den Rhythmus dieser Laute hinein begann der Opa, das Gedicht zu sprechen: Sind hierorts Häuser grün, tret ich noch in ein Haus. | Sind hier die Brücken heil, geh ich auf gutem Grund. | Ist Liebesmüh in alle Zeit ver-loren, verlier ich sie hier gern. Elfie tat’s ihm gleich, Wort für Wort, neben vertäuten Booten, die sich langsam in die Dunkelheit senkten, so lange und so oft, bis Elfie das Gedicht von vorne bis hinten auswendig vortragen konnte.
„Ingeborg Bachmann“, raunte ihr Opa zum Schluss. „Meine erste große Liebe.“
RE8 war das Paradies, das war Elfies kleines Paradies, und auch der Lübecker Hauptbahnhof, an dem sie manchmal umstieg. Der roch nach Bewegung, nach Geschehen und manchmal auch, wenn sie an den Stehtischen vor den Bist-ros vorbeilief, nach Automatenkaffee.
RE8 das Paradies; und rotsamtene Sitzbezüge. Elfies Hände strichen oft darüber, während sie aus dem Fenster blickte und die Landschaft dahinter sich nebelbeladen schwer nach dem Regenschauer wiegte. Dann kam Reinfeld und bald Bad Oldesloe und danach die Schaffnerin – die kontrollierte Elfies Bahnticket. Beim Halt in Ahrensburg wurde Elfie etwas traurig, weil es vor Hamburg der letzte war und die Tage bei den Großeltern zwar auch immer ein Entkommen in die Großstadt bedeuteten, Elfie sie aber nicht mehr nur für sich hatte, nicht wie diese Zugfahrt. Damals schon, als Elfie ein Kind, Travemünde das Rachenhinterland und RE8 das Paradies war, konnte sie es kaum erwarten, das alles einmal hinter sich zu lassen.
An der Ecke, wo sie ihren schwarzen Kaffee trinkt und dabei durch Lehrbücher blättert, ganz so wie es sie das romantisierte Bild einer Studentin gelehrt hat – aus dem Laden daneben laut aufgedrehte Musik aus Lautsprecherboxen, im-mer wieder kommt der Fahrradmonteur heraus und tritt mal auf einem gelben, mal einem blauen oder schwarzen Fahrrad, mal einem großen, einem mit Korb am Lenker oder ei-nem Rennrad in die Pedale und fährt ein Stück den Gehweg entlang, manövriert sich dabei geschickt durch die vereinzelt spazierenden Leute hindurch und fährt anschließend wieder zurück in die Werkstatt. Ein paar Rufe: Hier die Schraube enger ziehen oder Es geht dahin wie nix!
In der Straßenbahn zu sitzen, ist eines der Dinge, die sie fast am liebsten tut. Unüblich und für die meisten auch unverständlich. Etwas mehr nachvollziehbar, wenn sie ihnen erzählt, dass sie aus der nördlichen Ecke Deutschlands, Travemünde, kommt und die längste Zeit ihres Lebens nichts anderes als diese Ecke gesehen hat. Entfliehen in die Großstadt nicken sie dann – und Entfliehen nach Österreich! Ein Lachen. Weder das eine noch das andere kann so richtig stimmen – ein Entfliehen ist es kaum, die Begegnung mit der Heimat und der eigenen Herkunft beginnt erst so richtig ab dem Punkt, da man sie verlässt. Das wird ihr in vielen Momenten des Alltags bewusst, Erinnerungen, oft schamgetränkt, kreuzen ständig Gegenwartsgedanken – die Gegensätze hier sind es, die das dort so deutlich machen.
Sonntags wird öffentlich Tatort in der roten Bar, nicht weit von ihr zu Hause, geschaut, dazu ein, zwei Bier getrun-ken. Unter der Woche versucht sie, sich auf das Studium zu konzentrieren, Biologie, tut sich aber oft schwer, in diesen neuen Rhythmus reinzukommen. Dann fragt sie sich manchmal, wenn sie abends noch ein letztes Mal vor dem Einschlafen ihre Unterlagen vor einer Prüfung durchgeht, ob sie nicht auch als einfache Fischerin an der Ostsee glücklich geworden wäre – morgens mit dem Boot aufs Wasser hin-aus, abends bei Einbruch der Finsternis wieder zurück und alles, was sie den ganzen Tag sehen würde, wäre die ewige Weite des Meeres.
Ihre neuen Freunde schwärmen von Wien und quetschen sie darüber aus, wie sie aus einer der nördlichsten Ecken Deutschlands auf die Idee komme, hierher zu ziehen. Sie habe den Finger blind auf eine Europakarte gelegt und wäre in Wien gelandet, erwidert Elfie dann.
Ihr gefällt der Burggarten, sie mag die Weinlandschaften um die Stadt herum und auch die Donau, die ihr, wenn sie in der Mitte einer Brücke steht, so ewig breit vorkommt, dass sie manchmal mehrere Minuten nur fasziniert am Geländer stehen kann, um darauf zu warten, dass auf der Brücke gegenüber die Züge hinüberfahren, den Fluss kreuzend. Vor allem abends, wenn das orange-gelblich gefärbte Licht vom Himmel hinter den Gleisen hervorleuchtet, bekommt sie das Gefühl von Großstadtleben, weil sie denkt, nirgends sonst könnten Natur und Stadt so sehr ineinander verwoben sein.
Die eigenen Zwanziger sind die Zeit, in der man alles sein kann und gleichzeitig nichts ist. Wenn sie die Gänge ihrer Universität entlang spaziert und sich vorstellt, wie viele Möglichkeiten ihr in diesem Moment offenstehen, das zu werden, was sie denkt, sein zu wollen, und sie gleichzeitig doch das Gefühl überrumpelt, dass es da nichts gibt, was sie so richtig ausmacht, sie doch nur denselben Routinen und Abläufen folgt wie die anderen in ihrem Alter, die sich oft – vielleicht aus ebendieser Angst, nicht zu wissen, wer man ist – besonders charakterstark und selbstbewusst zu zeigen versuchen. Es ist ein wenig das Gefühl von fehlendem Selbst, dem nur das Glück in die Hände gelegt wurde, sich aussuchen zu können, was sie aus diesem fehlenden Selbst machen könnte.
Am Nachtkästchen ein Gedichtband – Ingeborg Bachmann, sämtliche Gedichte. Ein grüner Zettel ist zwischen die Seiten gelegt, schaut oben am Rand hervor und markiert die Stelle mit dem Gedicht Böhmen liegt am Meer. Die Seite schlägt Elfie auf, wenn sie sich verloren fühlt, wenn sie das Leben zweifeln lässt und wenn sie sich dabei sehr einsam fühlt. Dann erinnert sie sich an Stege im Wasser, wippende Boote und die tief-sanfte Stimme ihres Opas, und dabei merkt sie, dass Erinnerung an Vertrautheit eigentlich ist, was Heimat bedeutet, und sie fühlt sich besser, weil sie weiß, dass kein ungemütlicher Moment im Jetzt ihr diese vertraute Erinnerung nehmen kann.
Sie nimmt den grünen Zettel heraus, auf dem in kleinen Buchstaben in der Handschrift ihres Opas geschrieben steht: Von der ersten großen Liebe meines Lebens für die letzte.
Es war im letzten Sommer gewesen – der letzte in der Heimat, vor dem Studium, und der erste nach dem Tod ihres Opas. Elfie saß mit ihrer Oma im kleinen Bibliothekszimmer in Hamburg, sortierte mit ihr Bücher durch, die sie für ihre Zeit als Studentin brauchen könnte und mit nach Wien nehmen sollte, da fiel ihr der Gedichtband in die Hände, und Elfie sah ganz klar, wie sich die Augen der Großmutter mit Tränen füllten, als sie durch die Seiten blätterte, und sie er-innerte sich genau, wie ihre Blicke viele Male über die Zeilen auf dem grünen Zettelchen flogen, den sie dann, mitsamt des Buches, Elfie reichte. Ein Geschenk von ihrem Opa, als sie selbst noch jung waren, und ihre Oma sagte: Es hat mich immer aufgeheitert, darin zu lesen. Nicht unbedingt der Gedichte wegen, sondern weil sie mich immer an deinen Opa erinnert haben.
Da ist diese Vertrautheit, diese Zuversicht, die sich langsam an einem fremden Ort ausbreitet, die dieses Nichts, das da vorher war, Stück für Stück füllt – mit Erleben, Gefühl und Erinnerung –, und Elfie weiß, dass die Ungeduld, etwas von diesem Leben zu ergreifen, immer weiter schrumpft, weil ihr in dieser Fremde anzukommen das Gefühl gibt, es bereits ergriffen zu haben. Und sie merkt, wie sich die Mündung von Rachenhinterland auftut, sie ausspuckt, in ein weites, offenes Meer hinein, und sie langsam anfängt, zwischen den Wellen zu schwimmen.
Der Text ist eine der Siegergeschichten des 7. Vechtaer Jugendliteraturpreises
Helena Haselsteiner
20 J., Wien, sie kommt ursprünglich aus Salzburg, ist aber vor einem Jahr für ihr Studium „Vergleichende Literaturwissenschaft“ nach Wien gezogen. Schreiben hat sie schon ihr Leben lang begleitet, ob in essayistischer Form, Kurztexten, Kurzgeschichten oder auch Romanen – seit sie schreiben gelernt hat, schreibt sie. Ansonsten ist sie auch gerne und viel mit ihren FreundInnen unterwegs – die Theater, Cafés, Natur in Wien entdecken. Sie geht gerne Bouldern, Radfahren, ins Kino und kocht gerne, vor allem seit sie in einer WG wohnt.