Ida Benders biographischer Roman bringt wichtige Dokumente über die Geschichte der Russlanddeutschen

Ida Bender greift in ihrem großen biographischen Roman 'Schön ist die Jugend' über die Geschichte der Russlanddeutschen auch auf sehr wichtige Dokumente zurück, in denen sie die Entstehung der Autonomen Republik der Wolgadeutschen 1918 aufzeigt. Hier eine Notiz aus dem Tagebuch ihres Vaters (Dominik Hollmann), der damals als Lehrer in Rothammel wirkte

 

Aus Vaters Tagebuch.
Zum Schluss erlebten die Konferenzteilnehmer ein historisches Ereignis. Es war Sonntag, der 20.Oktober 1918, das Programm der Lehrerkonferenz war erschöpft. Wir rüsteten zur Abfahrt. Es waren nur noch einige Formalitäten zu erledigen.
Nach dem Frühstück begaben sich alle ins Freie auf die Wiese, die sich bis zum Wolgaufer erstreckte. Von hier war eine herrliche Sicht auf den breiten Strom und die blauen Berge am gegenüberliegenden Wolgaufer. Es war ein milder Herbsttag. Die Luft war frisch, aber noch nicht kalt. Die Sonne tat ihr möglichstes. Paarweise oder in kleinen Gruppen spazierten die Lehrer über die grüne Ebene. Es hieß, man erwarte eine hohe Amtsperson.
In der Stadt Saratow war bereits seit Juni ein Amt tätig, das man das deutsche Kommissariat nannte. Schon im Sommer gingen von diesem Amt Instruktionen, Verfügungen an die Dorfsowjets der deutschen Dörfer aus. Auch diese Konferenz der deutschen Lehrer war durch Initiative dieses Kommissariats zustande gekommen. Das deutsche autonome Gebiet war schon eine entschiedene Sache, obwohl noch kein offizielles Dokument vorlag.
Wir Lehrer unterhielten uns an diesem Morgen über die bevorstehende Neuerung in den Schulen. Alles war noch nebelhaft im Schulwesen, aber auch die Gründung einer wolgadeutschen administrativen Einheit stellten wir uns unklar vor. Die meisten Lehrer waren nicht begeistert, um nicht zu sagen skeptisch. Noch war uns bewusst, dass das Misstrauen der russischen Bevölkerung gegenüber der deutschen, das in den Kriegsjahren 1914-18 besonders stark zu Tag trat, lange noch nicht überwunden ist. Auch das Vertrauen der Lehrer zu der Sowjetmacht war nicht stark. Deshalb verhielten sich viele vorsichtig, zurückhaltend.
Da kam eine kleine Gruppe Männer aus der Stadt auf uns zu, wir scharten uns um sie und ein Mann stellte uns den Gast vor: „Genosse Moor, Mitglied des deutschen Kommissariats aus Saratow ist gekommen, um euch Lehrer mit dem Dekret der Sowjetregierung bekannt zu machen, das selbst Lenin unterschrieben hat“.
Der hohe Gast las mit tiefer Bassstimme das, später von den Verfechtern der Gleichberechtigung der Sowjetdeutschen nach 1964 so oft zitierte Dekret des Rates der Volkskommissare (Moskau) vom 19. Oktober 1918 vor, das ein Autonomes Gebiet der Wolgadeutschen proklamierte.
Es war ein erhabener Augenblick und brachte feierliche Stimmung, bewegte die Herzen der deutschen Lehrer. Mit ehrlichem aufrichtigen Applaus und inniger Genugtuung begrüßten wir diesen Regierungser-lass. So mancher, vor einer Stunde skeptisch gestimmt, fühlte sich mit einmal anders, als ob er gewachsen, um einen Kopf höher, fühlte sich als vollwertiger Bürger Russlands geworden. Nach all dem Hass gegen die deutsche Bevölkerung Russlands der jüngsten Jahre.
Aufgeregt, gefühlsgeladen waren die Gespräche auf dem Heimweg in die Stadt Seelmann. Die Lehrer, die hier als Vertreter der breiten Volksmasse waren, fühlten ihre Verantwortung vor ihren Schülern, vor ihrem Volke. Verschwunden waren Skepsis und Zweifel. Wir sahen mit hellen Augen in die Zukunft, wollten arbeiten, wirken, ein neues Leben errichten als freie, gleichberechtigte Bürger des Landes. Eine lichte rosafarbene sonnige Zukunft wähnten wir vor uns ...
 Die zweite Hälfte des Jahres 1918 verlief in Rothammel ziemlich friedlich. Die Leidenschaften und Erregungen, die Anfang des Jahres hohe Wellen schlugen, hatten sich beruhigt. Die Bauern waren mit ihren gewohnten Arbeiten beschäftigt. Die Ernte war nicht schlecht und so mancher Bauer hatte genug Frucht für seine Familie für den ganzen Winter und konnte auch etwas auf den Markt bringen. Die Mehrheit war mit der neuen Landreform zufrieden.
Die Zentrale Verwaltung des Deutschen Autonomen Gebiets hatte sich in Katharinenstadt (später hieß sie Marxstadt, nach 1941 Marx) etabliert. Das Gebiet war in drei Bezirke geteilt:
1. Balzer mit allen deutschen Dörfern auf der Bergseite,
2. Seelmann, zu dem der südliche Teil der Wiesenseite gehörte, und
3. Katharinenstadt mit den deutschen Siedlungen des nördlichen Teils der Wiesenseite.
Alle Verordnungen wurden nun in deutscher Sprache geführt. Und das war das erste Mal, seit die Deutschen in Russland lebten, dass die Amtssprache in ihrer deutschen Muttersprache geführt wurde.
In Rothammel wurde ein neuer Dorfrat gewählt. Zu dieser Wahl war ein Vertreter der deutschen Regierung aus dem Gebietszentrum gekommen. In den neuen Dorfrat wurden diesmal ernste Bauern, einige junge Männer und eine Frau gewählt. Das entsprach dem Geist der neuen Zeit.
Der Schulunterricht verlief regelmäßig, doch es fehlte an Heften, Schreibutensilien, methodischen Anweisungen. Es war eine Zeit des Übergangs zu neuen Verhältnissen, von denen keiner eine klare Vorstellung hatte.

 

Der etwa 600seitige Roman befindet sich zur Zeit in der Lektoratsarbeit, wird Anfang des kommenden Monats wohl im Druck erscheinen.