Ingrid Ihben - Alle Jahre wieder

Ingrid Ihben

Alle Jahre wieder
Ich bin gerade dabei, eine To-do-Liste für Weihnachten zu schreiben, da klingelt es an der Haustür. Meine Freundin Ann kommt hereingestürmt und umarmt mich herzlich. „Du, Birgit, ich wollte mich nur noch kurz von dir verabschieden, gleich geht’s in den Winterurlaub nach Tirol. In einem Vier-Sterne-Hotel werde ich mich an den Feiertagen so richtig verwöhnen lassen.“
„Pass auf dich auf!“, sage ich, doch Ann winkt nur ab. „Keine Sorge, Unkraut vergeht nicht. Pass du lieber auf dich auf. Übernimm dich nur nicht wieder.“
Ich seufze und sie nickt verständnisvoll. Am liebsten würde ich schnell ein paar Sachen packen und mit ihr in den Urlaub fahren. Weihnachten einmal ganz anders verbringen, ohne die üblichen Verpflichtungen. Ich biete ihr noch einen Kaffee an, aber Ann winkt ab. „Du, ich bin schon spät dran. Also, ich wünsche dir ein frohes Weihnachtsfest und lass dich nicht stressen. Grüß mir deine Familie. Im neuen Jahr sehen wir uns wieder.“
„Mach´s gut!“, rufe ich ihr hinterher und schon düst sie davon.
Ich bewundere Ann. Einmal an Weihnachten nichts tun zu müssen, nur machen, was mir gefällt und mich im Hotel mit Frühstücksbuffet und am Weihnachtsabend von Kellnern mit einem Drei-Gänge-Menü verwöhnen lassen.
Ich schreibe weiter an meiner To-Do.Liste, die stetig länger wird: Torten, Plätzchen und Neujahrskuchen backen, Branntwein mit Rosinen ansetzen, die ganze Einkaufsliste abarbeiten, die bereits jetzt schon mehr als 2 Din-A-4-Seiten  ausfüllt, und die Zimmer für Sohn Jörg und Freundin Janna herrichten, zudem das Haus auf Hochglanz bringen. Dabei habe ich noch nicht einmal alle Weihnachtsgeschenke zusammen. Und in fünf Tagen ist Weihnachten. Sven ist mir auch keine große Hilfe. Er hält sich tunlichst aus der Küche fern. Immer wieder denke ich an Ann und wie sie die Festtage verbringt. Ich gebe es zu: Ich gönne es ihr von Herzen, aber ich bin auch neidisch.
Ich denke an die vergangenen Weihnachtsfeiern zurück. Jedes Jahr dasselbe Ritual: Gegen Mittag holt mein Mann seine Mutter ab, die ihn dann sogleich vollkommen in Beschlag nimmt. Etwas später trudelt mein Schwager Arno ein, lässt sich schwerfällig in meinen besten Fernsehsessel fallen und bedient sich gleich ordentlich an unserer Hausbar. Ich kann ihn nicht ausstehen, denn er ist ein großkotziger Besserwisser und Dummschwätzer. Mit zunehmendem Alkoholgenuss wird er immer frecher und ordinärer, und von Frauen hat er eh keine gute Meinung. Aber mein lieber Mann lädt ihn jedes Jahr wieder ein. Für mich ist Arno ein absoluter Egoist. Er käme nicht einmal auf die Idee, Geschenke mitzubringen, auch nicht, als Jörg noch ganz klein war, abgesehen von dem obligatorischen Weihnachtsstern aus dem Supermarkt.
Fast den ganzen Tag verbringe ich dann in der Küche und am Abend bemühe ich mich, dass das Essen rechtzeitig auf dem Tisch steht, während es sich die anderen in der Stube gemütlich machen. Etwas spät, aber pünktlich zum Essen, erscheint mein Sohn nebst Freundin.
Heute schleicht mein Mann wieder ständig um mich herum und ich weiß, was kommen wird: „Birgit, es ist dir doch recht, dass ich meinen Bruder einlade? Sonst müsste er Weihnachten ganz allein verbringen.“ Dabei weiß er genau, was ich von seinem Bruder halte. Dann wird er mich wieder erwartungsvoll anschauen, mit seinem treuherzigen Blick, der mich an Nachbars Dackel erinnert, wenn der um ein Leckerli bettelt. Er versteht es wie kein anderer, mein Herz zu erweichen.
Und ich dumme Kuh werde sicher wieder einmal „Ja“ sagen, obwohl ich „Neeeiiin“ schreien möchte. Aber ich weiß ja, wie sehr er an seinen kleinen Bruder hängt und daher gebe ich jedes Mal nach. Und wer braucht schon einen schlechtgelaunten Ehemann an Heiligabend.
Mir geht der Gedanke an Ann mit ihrem Luxushotel nicht mehr aus dem Sinn und in mir reift ein Entschluss: Dieses Jahr werde ich alles anders machen. Die Küche bleibt kalt. Basta!
Jörg und Janna werde ich bitten, ihre leckeren, vegetarischen Frikadellen und Salate mitzubringen, die sie oft auf Facebook posten und für die sie immer viel Lob erhalten.
Meine Schwiegermutter preist gern ihre Torten an, die ihr - nach eigenem Bekunden - viel besser gelingen als meine.
Und mein lieber Schwager Arno kann seine angeblich weltbeste Mousse au Chocolat mitbringen, die er uns jedoch bisher vorenthalten hat. Ich glaube kaum, dass er sich darauf einlässt. Vermutlich sagt er im letzten Moment ab. Umso besser!
Ich nehme wieder meine To-do-Liste zur Hand und streiche mit einem Rotstift das meiste davon weg. Puh, das wäre geschafft!
Diesmal bin ich es, die sich - hoffentlich - zurücklehnen und den Heiligabend genießen kann. Ich bin gespannt, wie der Abend verlaufen wird. Ich habe noch etwas Angst vor der eigenen Courage, aber es wird höchste Zeit, dass die anderen meinen Wert erkennen, vor allem ich selbst.