Jenny Schon - Auf der Suche nach dem ungeheuren Ungeziefer …. Zum 100. Todestag von Franz Kafka
Jenny Schon
Auf der Suche nach dem ungeheuren Ungeziefer….
Zum 100. Todestag von Franz Kafka
(* 3. Juli 1883 in Prag, 3. Juni 1924 in Kierling, Österreich)
Ein Stilmittel Kafkas ist es, schon im ersten Satz des Werkes die ganze künftige verstörende Problematik konzentriert offen zu legen, wie etwa in „Die Verwandlung“ (1): ….fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt…
Aber auch in nicht so berühmten Erzählungen wie „Eine kleine Frau“(2) : Es ist eine kleine Frau von Natur aus recht schlank…
Nachdem er mit der Beschreibung der Frau zu Ende ist, kommt er auf das eigentliche Thema, das er mantrahaft durch den Text jagt. Diese kleine Frau ist nun mit mir unzufrieden…ich ärgere sie auf Schritt und Tritt…und so sehr die einzige Beziehung, die zwischen uns besteht, der Ärger ist…und bleibt.
Er scheucht den Leser mit dem Wort „Ärger“ der Frau hinterher, die eigentlich nicht viel mehr macht, als sich über ihn zu ärgern.
Eine ganze Geschichte um dieses Wort, das nicht aus der Welt zu schaffen ist, egal wie man es dreht und wendet, beide brauchen den Ärger, die Frau, aber auch der Erzähler, sonst wär es obsolet. Kafka hat das Wort Ärger eigentlich nur fünfzehn Mal verwandt, aber es kommt einem vor, als lauere es in jedem zweiten Satz. Was allerdings die Ursache dafür ist, erfahren wir nicht. Diese Erzählung, ohne eine eigentliche Handlung und nur zur Präsentation des Tatbestandes, dass sich jemand grundlos ärgert, kann, nach meiner Kenntnis, Kafka nur in Berlin eingefallen sein. Wahrscheinlich war Kafka in Berlin kaum mit „echten“ Berlinern zusammen, er hätte sonst über das Wort „Meckern“ stolpern müssen, „der Berliner meckert immer“ ist ein fester Bestandteil bis heute in der Charakteristik Berlins. Kafka nahm stattdessen das Wort „Ärgern“, ihm ist unterbewusst der Tatbestand in der Stadt Berlin aufgefallen. Der Glückforscher Bernd Raffelhüschen schreibt: „Der Berliner ist ein Grummelkopf. Er kann nicht anders: Er muss schimpfen und das gehört zu seinem Leben dazu.“
Und das alles grundlos, einfach so, wie sich ja die „Kleine Frau“ auch grundlos ärgert nach Auskunft des Ich-Erzählers alias Franz Kafka.
Wir haben allerdings auch nicht erfahren, warum Gregor Samsa ausgerechnet zu einem „ungeheuren Ungeziefer“ transformiert. Was beide Erzählungen grundlegend unterscheidet, ist die Aussichtslosigkeit. Die Verwandlung des Gregor Samsa ist nicht zu ändern, aber die Beziehung zu der „Kleinen Frau“ könnte sofort abgebrochen werden, wird aber nicht. Um die Geschichte als eine der wenigen von ihm positiv ausgehen zu lassen, lernt er, sich zu arrangieren.
In beiden Erzählungen ist die Kommunikation gestört.
Die Wirklichkeit wird zwar durch Gregor in der „Verwandlung“ reflektiert dargestellt und der Leser weiß sich durch die Erzählweise auf einer Ebene mit Gregor, also mit großer Nähe zu ihm, aber es gibt den auktorialen Erzähler, der sich am Ende der Erzählung löst und nach dem Tode Gregors hervortritt.
In der „kleinen Frau“ gibt es einen Ich-Erzähler, so dass die Distanz des Lesers, die es ihm ermöglichen könnte, die Behauptungen des Erzählers zu überprüfen, nicht gegeben ist. Es fallen seine Widersprüche auf, seine unglückliche Wortwahl, er spricht von Peinlichkeit, Scham, Frauenschlauheit, ohne das näher zu erläutern.
In beiden Erzählungen schafft Kafka eine eigene Welt, die nach eigenen Gesetzen funktioniert. Es hat als Leser keinen Zweck, diesen Gesetzen zu widersprechen.
Mit dieser Suggestionskraft drückt er aus, wie sehr die Protagonisten, letztlich er, in die Verhältnisse verstrickt sind, ohne sie wirklich verändern zu können. Da hilft auch keine intellektuelle Analyse. Das Resümee in der „Kleinen Frau“ ist letztlich, man arrangiert sich, es bleibt, wie es ist. Sie meckert, wie halt eben der Berliner bis heute meckert, und er hält es aus. In Kafkas Kreisen wurde vermutet, er behandle in der Erzählung den Konflikt mit seiner geldgierigen Vermieterin in Steglitz, dazu sind aber einige zu intime Mutmaßungen enthalten.
Ein besonderer Aspekt bei der Erzählung „Die Verwandlung“ ist die Verwandlung selbst. Kafka hat in Prag der Minderheitensprachgruppe des Deutschen angehört, und er verwendet das extrem starke Wort „Ungeziefer“, das er noch steigert durch das Attribut „ungeheures“. Im Umgang mit diesem Text ist aber der größte Teil der Interpreten nicht bei dem Originalwort geblieben, sondern macht daraus einen Käfer, obwohl Kafka in einem Brief an den Verlag Kurt Wolff vom 25. Oktober 1915 dringend abgeraten hat, auf dem Titelblatt der Textausgabe Gregor als Insekt abzubilden.
Also „Ungeziefer“ nur metaphorisch?
Das Besondere am Deutschen ist die unglaubliche Vielfalt an Möglichkeiten von Wortneuschöpfungen u.a. durch Hinzufügung von Prä- und Suffixen und anderem.
Das zusammengesetzte Wort „Ungeziefer“ erkennen wir im Deutschen sofort als ein extrem bösartiges Wort. Es stammt aus dem Mittelhochdeutschen und setzt sich aus den Wörtern “ungezibere” und “zeber” zusammen.
“Zeber” bedeutete “Opfertier”, während “ungezibere” “zum Opfern ungeeignetes Tier” bedeutete. Im Laufe der Zeit wurde das Wort “Ungeziefer” jedoch als Synonym für tierische Schädlinge wie Läuse, Wanzen, Milben, Ratten und Mäuse verwendet.
Das ist natürlich interessant: „zum Opfern ungeeignetes Tier“. Für die Gottheiten geopfert zu werden, war ja in vielen Kulturen das Höchste. Wie ja letztlich im Christentum auch Jesus geopfert wird für uns Menschen.
Menschenopfer wurden besonders ausgesucht, und wenn die Gottheit das Opfer nicht annahm, war das ein böses Zeichen.
Gregor Samsa ist also nicht würdig. Seine Verwandlung in ein Ungeziefer macht ihn zum „ungeeigneten Tier“, das seiner Familie geopfert wird.
Ob das Kafka wusste. Ob er deshalb bewusst Ungeziefer benutzte. Letztlich ist die Aussage die, der Vater ist gestraft mit diesem unwürdigen Sohn. Das scheint auch in dem langen „Brief an den Vater“ (3) durch. Daß er ein ungeheures Ungeziefer ist, könnte ja auch die geheime Rache Kafkas an seinem ungeliebten Vater sein.
Jedenfalls ist, wie meist übersetzt, Käfer, was ja ein harmloses oder schönes Tier sein kann, wie z.B. der Marienkäfer, falsch und auch ungeeignet für die vielschichtigen Ebenen dieser Erzählung.
Auch Insekt trifft nicht die Bedeutung von „Ungeziefer“, auch das kann ein schönes Wesen wie die Libelle sein. Kafka hat mit Sicherheit absichtlich „ungeheures Ungeziefer“ verwendet, wie er ja auch in „Eine kleine Frau“ mit dem Wort „Ärger“ spielt, um im Leser eine unterschwellige Wut auf die „kleine Frau“ zu erzeugen.
Ich hab mir mal Englische Übersetzungen (4) vorgenommen aus einem Artikel von 2015.
Deutsches Original:
Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt
Englische Übersetzung 1933: As Gregor Samsa awoke one morning from uneasy dreams he found himself transformed in his bed into a gigantic insect.
1972: When Gregor Samsa woke up one morning from unsettling dreams, he found himself changed in his bed into a monstrous vermin.
1993: One morning, upon awakening from agitated dreams, Gregor Samsa found himself, in his bed, transformed into a monstrous vermin.
2007: When Gregor Samsa awoke one morning from troubled dreams, he found himself changed into a monstrous cockroach in his bed.
2009: As Gregor Samsa woke one morning from uneasy dreams, he found himself transformed into some kind of monstrous vermin.
2014: One morning, as Gregor Samsa woke from a fitful, dream-filled sleep, he found that he had changed into an enormous bedbug.
2014: When Gregor Samsa woke one morning from troubled dreams, he found himself transformed right there in his bed into some sort of monstrous insect.
2014: One morning Gregor Samsa woke in his bed from uneasy dreams and found he had turned into a large verminous insect.
> monstrous vermin kommt dem deutschen Original am nächsten. Vermin stammt vom Lateinischen vermis ab und bedeutet Wurm, wird aber im Englischen auch als das Pack, als Schädling und Ungeziefer angesehen, also negativer als Käfer, der im Englischen: beetle, heißt, was nirgendwo verwendet wurde.
Auch wenn Kafka noch im alten Österreich geboren wurde, im Königreich Böhmen, lebte er doch in einer Stadt, in der überwiegend tschechisch gesprochen wurde und er konnte auch tschechisch.
Ich begann in Tschechien in den frühen 1990er Jahren zu forschen, da meine mütterliche Familie auch aus dem Königreich Böhmen stammte. Wenn ich nach deutschsprachiger Literatur fragte, eben auch nach Rilke oder Kafka, großes Schweigen, haben wir nicht, ist in Deutsch geschrieben.
Ich hab in Westdeutschland als erstes seiner Werke „Die Verwandlung“ gelesen, das war 1959, da war ich 16 Jahre alt und ging in die Lehre bei einem Steuerberater. Also mit keinem intellektuellen Hintergrund, aber Kafka war der Geheimtipp bei uns jungen Leuten, die wir an Literatur interessiert waren, und tatsächlich er ist auch in Westdeutschland erst in in dieser Zeit populär geworden, auch Anne Frank konnten wir erst 1958 lesen, weil es erst da eine deutsche Übersetzung gab. Die Biographie von Kafkas Freund Max Brod erschien 1962.(5)
Im Mai 1963 hielt der tschechoslowakische Schriftstellerverband zum 80. Geburtstag Kafkas auf Initiative von Eduard Goldstücker eine internationale Kafka-Konferenz im Schloss Liblice bei Prag ab, die sich mit dem damals im Ostblock, also auch in der DDR, weitgehend abgelehnten Schriftsteller sowie mit dem thematischen Schwerpunkt Entfremdung beschäftigte. Er wurde von vielen Rednern gewürdigt. Diese Konferenz gilt als ein Ausgangspunkt des Prager Frühlings von 1967/68. Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings im August 1968 wurden Kafkas Werke wieder verboten.
Durch die Verbote in der Nazizeit konnte auch bei uns erst seit den 1950er Jahren Kafka der Schriftsteller werden, der in die Weltliteratur einging.
Zum Beispiel verfilmte Orson Welles 1962 Franz Kafkas Roman Der Process.
Ich hab auch in tschechischen Kreisen rumgefragt, wie
„ungeheures Ungeziefer“ übersetzt worden ist.
Im Tschechischen heißt es hmyz/ Insekt, ist negativer als brouk/Käfer, wird aber nicht als Schimpfwort gebraucht.
Auch das Goethe Institut in Prag verwendet „Käfer“ in seiner virtuellen Bearbeitung:
Und so ist es wirklich: In „VRwandlung“ bin ich Gregor Samsa. Ich bin ein ekliger, verwirrter Käfer. Mit wachsender Faszination und leichtem Grauen betrachte ich meine neuen Gliedmaßen: Sie sind lang, schmal, behaart und überhaupt sind es irgendwie ziemlich viele. Statt des Bauchs habe ich einen harten Panzer, in meinem Blickfeld zappeln meine eigenen Fühler. Und als ich mich zum ersten Mal im Spiegel erblicke, erschrecke ich. Hinter der Tür fängt mein Vater an zu schimpfen: „Gregor... Gregor, mach jetzt endlich die Tür auf. („VRwandlung“ ist kein Tippfehler).
Ich habe auch mein Chinesisch bzw. das meiner chinesischen Freunde befragt, auch sie übersetzen lieber mit „甲虫“ Jiachong = Käfer, obwohl “害虫” – Hài chong - Schädling geeigneter wäre.
Im Französischen ist es ähnlich: En se réveillant un matin après des rêves agités, Gregor Samsa se retrouva, dans son lit, métamorphosé en un monstrueux insecte.
Auch andere Autoren haben die Insektenwelt bemüht, um bestimmte unzumutbare Zustände darzustellen. Z.B. Sartre hat symbolhaft während der Nazi-Besetzung 1943 sein Stück „Die Fliegen“(6) genannt. Fliegen und Spinnen sind auch bevorzugte Insekten in Horrorfilmen.
Das monströse Insekt muss kein Ungeziefer sein, es gibt auch lustige Insektenfilme über Ameisen, Heuschrecken, Bienen, obwohl viele dieser Insekten in Großaufnahmen angsteinflößend aussehen.
Über ein monströses Insekt kann man lachen, bei einem ungeheuren Ungeziefer vergeht uns das Lachen. Zum Lachen ist einem nicht bei seinen Erzählungen, oder doch?
Kafka aber selbst soll über manche seiner Geschichten gelacht haben.
Seiner zweimaligen Verlobten Felice Bauer bekannte er, er lese höllisch gerne vor und sei „als großer Lacher“ bekannt. Nicht nur in der ARD-Serie „Kafka“ im Mai 2024 kommt die gesellige humoristische Seite Kafkas zum Tragen, auch Klaus Wagenbach, der Kafka-Kenner seit den 1960iger Jahren hat immer wieder darauf hingewiesen. 2018 brachte er ein Lesebuch mit Kafkas witzigsten Texten heraus. Das gehört eben auch dazu, die eigene Düsternheit (s. Brief an den Vater), das Ungeziefer in einem, zu überwinden, wenn es sein muss, eben kafkaesk.
Copyright: Jenny Schon, Berlin
1) 1915 – Die Verwandlung. 1916 – Reihe Der jüngste Tag, Verlag Kurt Wolff, Leipzig, mit einer Schutzumschlagzeichnung von Ottomar Starke.
2) Erschienen 1924 – in: Ein Hungerkünstler (Erzählung von 1922) auch als Titel des Sammelbands mit drei weiteren Prosatexten: Erstes Leid, Eine kleine Frau und Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse). „Eine kleine Frau“ ist in Berlin-Steglitz geschrieben worden, wo er mit Dora Diamant seine letzte Liebe verbrachte.
3) Der Brief an den Vater ist ein 1919 verfasster, niemals abgeschickter Brief Franz Kafkas an seinen Vater. Er wurde postum 1952 in der Neuen Rundschau veröffentlicht und ist ein bevorzugter Text für psychoanalytische Studien über Kafka.
4) https://www.theguardian.com/books/booksblog/2015/may/13/kafka-metamorpho...
5) Franz Kafka. Eine Biographie. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 1962.
6) Die Uraufführung fand in Paris am 3. Juni 1943 im Théâtre Sarah-Bernhardt statt, das zu diesem Zeitpunkt „arisiert“ und zu Théâtre de la Cité umbenannt worden war. Die deutschsprachige Erstaufführung erfolgte am 12. Oktober 1944 im Zürcher Schauspielhaus, und die Erstaufführung in Deutschland war am 7. November 1947 in den Städtischen Bühnen.