Jenny Schon - Cherub. Für Friederike Mayröcker zum 90. Geburtstag

 

Jenny Schon

Cherub

Für Friederike Mayröcker zum 90. Geburtstag

1924-2014

 

 

Wilderin in

den Gängen

der Grammatik

ich folge dir

Knarrende Dielen

ausgetretene Stiegen

Luft dick daß die Ohren dröhnen

Witterung aufnehmend

und schon greifst du in den Raum

mit den unverbrauchten Wortstämmen

 

Ich traue mich

nicht deine

Spinnenbeinfinger

zu streicheln

die Worte ergreifen

als seien sie

eine Beute

Jägerin, selbst

auf der Hut

vor der Zerstörung

der Zeit

 

Deine stockigen

Glieder zerfallen

 ein Schattenspiel

wenn das Licht

schwindet

Deine gläserne Sprache

zersplittert mein Herz

Du fällst meinen

Wortstamm

Ich bin sprachlos

Deine Zunge spaltet

mein Trommelfell

Ich blute aus

in deiner Kraft

 

 

 

 

 

 

 

 

Was übrig

bleibt

düngt eines Tages das

Ruhebeet der Worte

Du signierst mein Buch

entwirrst dein Gerippe

erhebst dich und

der Schatten

Ernst Jandls folgt

 

 

Ich gehe zum Kleistgrab

am Wannsee

und du fährst nach Wien

 

 

II.

Berlin läßt nicht locker der

Potsdamer Platz ruft dich

Sie sind wieder hineingewachsen

deine Gebeine in die

ausgelatschten Schuhe

eures gemeinsamen Lebens

so bereift

bist du reisefertig

Die Wunden im Sand

schließen sich auf

deinem Herzen trampeln

Touristen Noch immer

Ernst Jandl am Lesetisch und du

sagst es war am Küchenfenster

beim letzten Mal

Es ist schwer

einen Mann auszukehren

Auch die Berliner Stadtreinigung

hat keinen Container

für Gedichte

zwischen Hochhäusern Der

Verkehr für einen Abend beruhigt

Ein kollektives Lauschen

deiner staubigen Stimme

Knarrende Dielen beim

Abgang - Der Abendstern

ist dem Cherub gewichen

 

Jenny Schon

fussvolk S. 154