Jenny Schon

Die Stadtführerin

Geest-Verlag 2023

ISBN 978-3-86685-953-1

ca. 400 S., 14.80 Euro

Statt einem Vorwort – Zu Helen Keller

Über das Bewusstsein von der Welt

Ich entsinne mich vieler Ereignisse des Sommers 1887, der auf das Erwachen meiner Seele folgte. Fortwährend tastete ich mich mit meinen Händen umher und lernte Beziehungen für jeden  Gegenstand, den ich berührte, kennen, und je mehr ich mit den  Dingen bekannt wurde und ihre Namen und Zwecke kennen lernte, desto freudiger und stärker wurde das Bewusstsein der Verwandtschaft mit der übrigen Welt.
Helen Keller, taubblinde Schriftstellerin, USA


Obwohl ich sehend bin, habe ich sofort verstanden, was Helen Keller damit meint, es ging mir nämlich ähnlich:
Vor 30 Jahren kannte ich nur einen Bruchteil dieser Fakten und Orte und Menschen, die ich in diesem Buch vorstelle. Als Endvierzigerin begann ich zu malen und ein vollkommen neues Studium: Kunst- Architektur- und Stadtgeschichte Berlins incl. Preußens. Durch die Maueröffnung war es möglich geworden, Berlin und seine Umgebung als ein Ganzes zu sehen. Ich lernte in der Kunstgeschichte völlig neue Begriffe, obwohl ich schon in den sechziger Jahre in einer Galerie für Expressionismus gearbeitet hatte, aber das war was völlig Anderes. Ich konnte jetzt jedes Ding, das ich sah, z.B. an den Gotischen Kirchen, benennen, ich konnte die noch vorhandenen barocken Gebäude in Worte zerlegen und sie wieder zusammenfügen, so dass sie wie in Trickfilmen auferstanden.
Auch mein Bewusstsein der Verwandtschaft mit der übrigen Welt wurde neu geboren und machte fast einen anderen Menschen aus mir, weil auch das „Achtundsechziger-Sein“  mir vieles verboten hatte, ich mir selbst verbat, die Schere im Kopf ausgeschnitten hatte.
Ich konnte endlich Kleist öffentlich lieben, Führungen zu ihm machen, den manche fälschlicherweise Romantiker nannten, was damals eine Deklassierung war, er war aber auch kein Klassiker, obwohl beide Elemente bei ihm zu finden sind, ich konnte meine spirituelle Seele offenbaren, die Schönheit preisen, Gedichte nicht nur schreiben (was ich schon seit meiner Jugend tat), sondern auch veröffentlichen.

Berlin, im Sommer 2023                       
Jenny Schon - Gehkünstlerin