Jenny Schon - Weihnachten `68

Jenny Schon


Weihnachten `68

Eigentlich habe ich mir geschworen, mit denen nicht. Aber ich bin verliebt und ich will mit Jens zusammen sein. Doch da sind seine, ihre Kinder, ach, wessen Kinder es sind, weiß man eh nicht so richtig, aber es sind halt Kinder, quakende, antiautoritäre Kinder.
Ich weiß, kein Kind ist antiautoritär geboren, es wird dazu gemacht. Wie ich auch zur Frau gemacht wurde, hat Simone de Beauvoir gesagt, na und, ich will schmusen.
Heiligabend klingele ich. Ich stiefele die vier Treppen hoch, die Flurtür steht offen, ich geh hinein in die große Charlottenburger Bürgerwohnung von der Jahrhundertwende, als Charlottenburg noch die reichste Stadt in Preußen war und noch nicht zu Berlin gehörte.
Die Kinder rempeln auf dem langen Korridor. Du kannst jetzt mit Jens nicht schmusen, der muß den Baum schmücken, spottet Tommi.
Biene quietscht hinterher. Der Jens hat einen Baum gekauft, wir haben einen Weihnachtsbaum. Wenn der fertig ist, könnt ihr schmusen.
Ich laufe rot an. Kinder sind das Schrecklichste, was es gibt. Keinen Takt! Wieso wissen diese Gören, daß ich mit Jens schmusen will, zumal ich hier kaum übernachte. Zweimal in dem halben Jahr, die ich hier übernachtet habe, weil wir gekifft hatten und mir schwindlig war.
Diese Bastarde haben durchs Schlüsselloch geguckt. Ich ziehe Biene an den Ohren. Ich bin eingeladen zur Weihnachtsgans. Wieso bist du nicht in der Küche und hilfst deiner Mutter.
Aua! Biene schlägt mir auf die Hand. Es gibt keine Weihnachtsgans. Gänse sind so blöd wie du und bürgerlich! Sie rennt in das Berliner Zimmer, dem Tommi hinterher. Der hat sich die Säge geschnappt und sägt stöhnend einen Tannenast ab. Jens sitzt auf dem Boden und spitzt den Baumfuß an.
Hallo, sage ich, frohe Weihnacht. Ihr habt mich zur Weihnachtsgans eingeladen.
Es gibt keine dumme Gans, Tommi unterbricht kurz sein lautes Stöhnen und Sägen, Gänse sind bürgerlich.
Monika öffnet die hintere Korridortür, die zu den Mädchenkammern und der Küche führt. Bisher schliefen die Kinder in den Mädchenkammern. Jens hat erzählt, daß sie Karin aufgenommen haben, die hätte sonst mit ihrem Kleinkind auf der Straße gesessen. Da es noch nachts schreit, wohnt jetzt Karin hinten in den zwei kleinen Zimmern.
Tommi und Biene, meint er beiläufig, haben vorne das Zimmer bekommen, das für dich reserviert war
Ah! murmele ich.
Das hat mit Christentum nichts zu tun, die wird mal genau so eine Genossin wie du.
Aha, denke ich, da hat er schon eine in Petto, wenn ich mal nicht will.
Karin steht mit ihrem plärrenden Baby hinter Monika. Ich sehe sie heute das erste Mal.  Eine Fischfahne vom fetten Wrasen wälzt sich durch den nicht zu lüftenden Korridor in das Berliner Zimmer.
Kann hier jemand mal den Tisch decken, schreit Karin. Mein Murkel hat sich voll vollgekotzt. Fast hätte ich geschrien, das riecht man.
Jens sägt am Stumpf, Tommi am überstehenden Ast. Endlich fällt er auf die Dielen. Ich nehme ihn mir. Zum Schmücken, sage ich.
Biene stellt sich auf den Stuhl und setzt ihren aufgeritzten Teddy auf die Baumspitze. Als Jens den Baum in den Ständer steckt, fällt der Teddy herunter, die Spreu verteilt sich auf dem Parkett. Biene jault. Mein armer Knuddel, ach du armes Knuddelchen.
Wenn die ihren schmuddeligen Bär auf den Baum packt, hole ich mein Schießeisen und setz es auf die Spitze, tobt Tommi.
Das wirst du nicht tun, schreit Monika.
Das Schießeisen holst du nur, wenn wir zum Amerikahaus demonstrieren gehn, mischt sich nun auch Jens ein.
Du siehst deinem Sohn ganz schön ähnlich, wenn du wütend bist, meine ich meinen Senf dazugeben zu müssen.
Es ist nicht sein Sohn, keift Monika, von so einem will ich doch keinen Sohn!
Jens faucht sie an. Das beruht auf Gegenseitigkeit.
Guck doch mal, wie schief der Baum ist, keift sie weiter. Tommi hat ihn gerade gesägt und du packst ihn schief in den Ständer.
Scheiße noch mal, tobt Jens, wer wollte denn einen Baum? Haben wir nicht tagelang diskutiert, es gibt keinen Baum, das ist scheißbürgerlich!
Monika, wegen deiner Gören rackere ich mich hier ab, verstehst du.
Biene heult. Die Gans ist scheißbürgerlich, nicht der Weihnachtsbaum. Du hast gesagt, Jens, der Baum ist die Heimat von meinem Teddy, das ist ein Koalabärchen, und es sitzt gerne in den Bäumen.
Ja, ja, Jens nimmt Biene in den Arm. Das habe ich gesagt und ich habe ja auch einen Baum besorgt, oder?
Biene küßt Jens. Er läßt sie runter, sie sammelt die Reste von ihrem Bär ein. Na gut, sagt Monika versöhnlich, wenn wir gegessen haben, hol ich das Nähzeug. Den kriegen wir schon wieder hin.
Und was  hänge ich in den Baum? Tommi hat die Säge auf das Fensterbrett gelegt.
Du hast doch noch die Holzeisenbahn von deinem Opa.
O ja, die paßt doch wunderbar zu dem Koalabärchen, ereifere ich mich, da fahrn wir mit dem Zug nach Amerika und besuchen das Bärchen in seiner Heimat.
Nee, Jens, wie kannst du nur so eine blöde Freundin haben! Tommi spukt vor Verachtung von seinem Fensterplatz herüber. Amerika, das sind Feinde, weißt du das nicht, da fahrn wir nicht mit meiner Eisenbahn hin!
Du blöder Affe, schreie ich, ich wollte nur mal wissen, wie blöd du bist, Koalabärchen leben in Australien und nicht in Amerika.
Tommi knallt die Tür und verschwindet in seinem Zimmer.
Ich gehe zu den Frauen in die Küche. Kann ich behilflich sein?
Wird ja Zeit, blökt die Neue.
Monika brutzelt den panierten Fisch. Stell die Schüssel mit dem  Kartoffelsalat auf den Tisch und die Teller.
Vom Berliner Zimmer hole ich die Tannenzweige, die Tommi abgesägt hat. Ich schmücke den Tisch.
Ich hab eine Bienenwachskerze mitgebracht als Geschenk für euch alle, sage ich.
Oh, wo hast du denn die her, Karin schnuppert. Das ist ja wie bei mir auf dem Dorfe, der Duft. Das ist aber schön.
Robert stampft wie immer mit seinen schweren Lederstiefeln, die er auf dem Trödelmarkt in London abgestaubt hatte, über die knarrenden Dielen. Das sieht ja aus wie Weihnachten hier. Ham’mer nich wochenlang diskutiert, daß wir die bürgerliche Scheiße abschaffen wollen!
Monika küßt ihn. Sind wir nicht zu dem Ergebnis gekommen, du Proli, daß wir den Kindern zuliebe einen Weihnachtsbaum haben werden, einen sozialistischen?
Wat is da draußen an dem Baum sozialistisch?
Er stammt aus der DDR! quakt Biene, wie auch die Platten, die wir gleich hören werden.
Monika gibt ihr einen Klaps. Du mußt nicht alles verraten, du Plappermaul.
Während wir den in Oel schwimmenden panierten Fisch und den Kartoffelsalat essen, kommt der Murkel den Korridor entlang gekrabbelt.
Mein Gott, wat stinkt et denn hier! schimpft Robert mit vollem Mund.
Der Fisch, der Fisch, Biene klopft rhythmisch mit der Gabel auf den Teller.
In England gab’s aber leckereren Fish and Chips  und nich so’ne Pampe von Kartoffelsalat, schimpft Robert immer noch. Und dann auch noch so’n G’stank.
Auch Jens dreht sich zu dem krabbelnden Murkel um. Der ist ja mit Scheiße vollgeschmiert. Karin, nu guck doch mal nach dem Kind!
Kann es sein, Karin, daß dein Kind ein anales Problem hat, beginnt Robert in seiner unerträglichen Art zu dozieren.
Ach du bist ein anales Arschloch… Karin springt auf und zerrt an der Tischdecke aus Papier, die zur Feier des Tages aufgelegt worden ist.
Ein Glas Rotwein kippt um. Monika tupft mit ihrer Serviette. Mir steht der Schweiß auf der Stirn.
Wenn nämlich die Ichfähigkeit des Kindes, doziert Robert weiter, in der analen Phase gestört ist…
Dann scheißt sich das Kind in die Hose und das ist völlig normal in dem Alter, unterbreche ich sein Doziere. Fröhliche Weihnacht, ich stehe auf, und hebe das Glas.
Auf die sozialistische Zukunft, strahlt Jens, tippt an mein Glas und küßt mich, dann küßt er Karin. Sie küßt zurück, auf den Mund. Ihre Zungen spielen miteinander. Mir stockt der Atem.
Das Baby, das immer noch im Flur herumkrabbelt, beginnt zu plärren. Die Neue läßt von Jens. Macht ihr den Abwasch, befiehlt er, auch du Tommi, Robert und ich schmücken den Baum. Wir rufen euch, wenn wir fertig sind.
Ach Jens, mault Tommi, wir Kinder wollen doch den Baum schmücken, das haben wir tagelang diskutiert.
Du kannst deine Eisenbahn dranhängen und deine Wasserpistole auch, versprochen, und Biene ihr Bärchen, aber erst mal müssen Robert und ich was klären. Sie verschwinden. Karin schimpft. Anale Phase, als hätten wir nicht alle eine anale Phase, Scheißer der!
Nun beruhige dich, Karin, sage ich, obwohl ich sie am liebsten fressen würde, diese Schlange.
Monika setzt sich und näht das Bärchen, Biene schaut ihr zu. Da bleiben nur Tommi und ich, die den Abwasch erledigen.
Nach einer Weile hören wir Musik. Die Korridortür wird geöffnet und Ernst Busch singt das Lenin-Lied, wie er Elektrizität nach Rußland bringt. Wir rennen alle gleichzeitig los. Tommi jauchzt als erster. Oh wie schön! Mamma guck mal, Biene, komm!
In der Spitze des Baumes thront Ho Tschi Minh mit weißem wallenden Spitzbart. In der nächsten Etage Marx, ebenfalls  mit weißer Watte umrahmt und Engels, ein wenig ergraut.
Die dritte Etage bewohnen Lenin, Stalin, Mao Zedong. Die vierte Etage schmücken Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Das Ganze ist von kleinen elektrischen Lichtern umkränzt. Mit Fanfaren beendet Ernst Busch sein Lied. Ein leises Summen ertönt, wir fassen uns an und singen laut Völker hört die Signale… Dem Beißbär Robert kullert eine Träne.
Tommi holt seine Wasserpistole. Ihr habt’s versprochen. Er geht zum Baum. Bespritzt Stalin. Das ist ein Mörder, ruft er, der muß weg, der hat Menschen umgebracht, hat mein Lehrer gesagt, der muß weg!
Robert will eingreifen. Monika schaut ihn streng an. Wir haben versprochen, daß die Kinder auch den Baum schmücken dürfen!
Ich singe Dong fang hong, tai yang sheng… Ich bin die einzige, die chinesisch kann. Als ich fertig bin, skandiere ich Ho Ho Ho Tschi Minh, Mao Zedong wan sui.
Ho Ho Ho Tschi Minh, Mao Zedong wan sui, quietscht Biene.
Mao Zedong dong dong peng peng, schreit Tommi und spritzt auch Mao nass.
Ob das Kind damals schon ahnte, daß auch Mao Dreck am Stecken hatte?