Jenny Schon - Weihnachtsbagger

Jenny Schon

Weihnachtsbagger


Spiel nicht mit den Schmuddelkindern, sing nicht ihre Lieder.
Geh doch in die Oberstadt, mach’s wie deine Brüder, so sprach
die Mutter, sprach der Vater, tralalala…

Petra singt still vor sich und merkt nicht, daß Lilo sie beobachtet.
Ein hübsches Kind, denkt sie, am Strand von Matala gezeugt, aus Schaum geboren wie Aphrodite. Petros war schon ein toller Liebhaber, ein Liebhaber eben, damals im Sommer der Liebe, nachdem die Junta gestürzt war. In die Höhlen geschissen hätten wir, Lilo lacht laut, dabei haben die griechischen Faschisten geschissen und es uns in die Schuhe geschoben.
Petra ist ganz versunken. Tralalala, ich spiel aber mit den Schmuddelkindern, ich bin ja selber eins…
Lilo nimmt das Mädchen in den Arm.
Ach, du Mami.
Du bist niedlich und kein Schmuddelkind, mein Kleines.
Doch, Mutti, wenn die die armen Kinder beschimpfen, dann muß ich ihnen doch helfen, oder?
Wer sind denn die?
Na, im Nassen Dreieck, die Fußballspieler, die sagen immer, haut ab, ihr Daumenlutscher. Und dann scheuchen sie uns, besonders die kleine Sonja, die weint dann und fällt in den Schmuddelmatsch…
Komm, zieh dich an, Petra, wir gehen in die Wilmersdorfer, Schaufenster gucken. Vielleicht finden wir was für Butzi zu Weihnachten, für den haben wir noch nichts.
Ja, für Onkel Butzi.
Am Nassen Dreieck spielen Jungen Fußball. Das sind sie, ruft Petra.
Behalten wir im Auge! Kind. Lilo legt den Arm auf Petras Schulter, die Ärmel der Wetterjacke sind zu kurz. Zieh die Handschuhe an, Petra, bitte. Es ist kalt. Du bist tüchtig gewachsen.
Siehste, dann bin ich nicht mehr die Kleine.
Die beiden biegen in die Wilmersdorfer Straße ein. Es dämmert, die Weihnachtslichter flimmern. Eine süßsäuerliche Alkoholduftfahne vom Punsch verströmt sich an einem Stand. Ein Karussell klingelt. Eine Currywurstbude dampft.
Hast du Hunger, fragt Lilo beim Chinesenstand. Wir haben schon lange nicht mehr chinesisch gegessen.
Au ja, mit Stäbchen.
Während Petra mit den Stäbchen herumfummelt, fragt sie. Du warst doch schon mal in China, nicht?
Ja, vor deiner Geburt.
Hast du denn vor meiner Geburt schon gelebt, Mama?
Ja, sicher. Ich mußte doch lernen, dich zu gebären. Lilo lacht in sich hinein. Du mußt ja auch erst alles lernen, damit du später ein Kind kriegen kannst.
Kann ich denn nicht schon anfangen damit, das dauert mir alles zu lange.
Lern erst mal mit den Stäbchen essen, das ist schon Anfang genug. Sieh, immer ist das Führungsstäbchen ein Stückchen länger als das untere, dann geht es besser. Daß ich in Hongkong gearbeitet habe, hab ich dir erzählt und daß ich dann nach Kreta zu deinem Papa bin, auch, und daß dein Papa ein Kapitän ist und deshalb nicht bei uns sein kann…
Ein Kapitän hat keine Heimat, nur sein Schiff, ja, das hast du gesagt. Wenn ich groß bin, werd ich auch Kapitän. Ich will auch in die weite Welt. Charlottenburg ist so klein.
Richtig, Charlottenburg ist ein Dorf, sagt eine Männerstimme.
He, Gerd-Peter. Lilo küßt ihn.
Kapitän willste werden, hab ich gehört, wie dein Papa? Dann fahren wir im Frühjahr mal auf dem Spreekahn vom Erwin, der hat den mit dem Dampfrohr, der am Schloß steht.
O ja! Petra hustet, sie verschluckt sich.
Gerd-Peter klopft ihr auf den Rücken.
Eigentlich darfste jetzt gar nichts mehr essen. Weißte, daß die Buddhisten vormittags um elfe das letzte Mal Reis essen, die hätten sich jetzt gar nicht verschlucken können. Es ist ja schon dunkel.
Petra hat sich beruhigt, sie lacht wieder. Zu dritt gehen sie los. Petra in der Mitte. Sie zerrt an Gerd-Peters Arm. Bist du Buddhist? Du hast aber kein gelbes Kleid an.
Kommt noch, kommt noch, gackert er, wenn de den Bettelmönch meinst, der vor Hertie sitzt und singt, das ist ein Freund von mir.
Viele von den Linken sind jetzt beim Guru, erwidert Lilo.
Guru, guru, gackerigu, singt Petra nach der Melodie von dem Schmuddelkinderlied.
Es ist Feierabend, einen Tag vor Heiligabend und die Leute strömen in die Geschäfte, als gäbe es bald nichts mehr zu kaufen. In der Schusterusstraße, einem Gäßchen aus dem alten Charlottenburg mit historischen Häusern, den wenigen, die der Zweite Weltkrieg und seine Bombenattacken übriggelassen haben, behindert eine Baustelle das Weitergehen.
Hab ich mir gedacht, grummelt Gerd-Peter.
Während Petra und Lilo stehen bleiben, klettert er auf einen Sandhaufen.
Warum steht hier ein Bagger? frage ich euch. Einen Tag vor Heiligabend steht hier ein Bagger, der gestern noch nicht da stand! Herrgottnochmal.
Petra klettert auch hinauf. Bleib hier, ruft Lilo, du rutschst ab.
Da will jemand vielleicht eine Freude machen. Hat hier den Weihnachtsbagger versteckt. Versteckt ihn hinterm Schmuddelhaufen, wie bei den Schmuddelkindern.
Ach, Petra, nun hör doch mal auf mit deinen Schmuddelkindern. Lilo ist genervt. Gerd-Peter, was ist denn da so schlimm dran, wenn da der Bagger steht. Nun komm du doch runter, Petra kommt sonst auch nicht. Es ist schon dunkel. In der Dunkelheit auf der Baustelle…
Gerd-Peter kommt herunter gesprungen. Nun nerv nicht, Lilo. Das ist eine ernste Sache, eine kriminelle Sache. Hier hat kein Bagger vor Heiligabend zu stehen. Der Typ soll das Haus renovieren, da braucht man keinen Bagger zu. Und schon gar nicht so’nen Brummer. Ich muß ne Nachtwache organisieren.
Oh, ich auch, ich mag nicht schlafengehen. Wir können doch in dem Bagger übernachten, nicht Gerd-Peter. Petra hüpft vor Freude.
Mensch, jetzt haste was angestellt mit dem Kind, giftet Lilo.
Ich bin kein Kind mehr, ich bin kein Kind, wir übernachten im Bagger.
Petra hüpft von einem Bein auf das andere.
Vielleicht ist der Bagger ja geklaut. Wir müssen den Bagger bewachen…
Deine Phantasie ist beachtlich, Kleene, aber wie Kinder nun mal sind, liebe Lilo, deine Tochter hat nicht unrecht. Kommt, ich hole Verstärkung. Petra, Ehrenwort, morgen brauche ich deine Hilfe. Heute gehste schlafen, verstanden. Bis morgen, ich ruf an. Bella ciao.
Ciao, ciao, Petra winkt ihm hinterher. Er geht schnellen Schrittes in Richtung Gierkeplatz. Laut singt er:
Es ist am Morgen kalt, da kommt der Willibald
und klettert in den Bagger und baggert auf dem Acker
ein großes tiefes Loch - was noch?


Lilo und Petra schlendern nach Hause. Was hat der Gerd-Peter da gesungen, Mama?
Baggerführer Willibald, heißt das, glaub ich, von dem Süverkrüp.
Butzi hat ne Schallplatte oder Kassette. Jedenfalls spielt er es oft.
Ach, jetzt ham mer ja nix für den Onkel gekauft, Mama, wie schade.
Na, dann basteln wir ihm was. Du kannst ja ein Bild mit dem Bagger malen, den du gesehen hast. Das paßt doch zu seinem Lied und wenn er morgen abend kommt, dann singste das Lied von den Schmuddelkindern, da freut er sich sehr. Das mag er nämlich auch.
Almuth sitzt am offenen Fenster. Sie schaut auf den Schusteruspark.
Wie schön, denkt sie, daß es früher reiche Leute gegeben hat, die sich eine Villa und einen Park leisten konnten. Jetzt haben wenigstens alle was davon


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


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Was machst du denn da? Es ist Weihnachten und nicht Ostern! Lilo schmeißt das Fenster zu. Es ist eisekalt hier. Spinnst du.
Ich wollte die Weihnachtsamsel hören. Im Schusteruspark hat sie gesungen. So wie früher, hab viel Lieb, hab dich lieb, lieb…
Mensch, Mädel, du hast schon vom Weihnachtspunsch genascht, sag’s ehrlich.
Ach, Lilo, du bist immer so rational. Irgendwie warst du früher verspielter.
Almuth, früher waren wir Kinder, da haben wir zusammen auf der Schulbank gesessen hier in der Schlesien-Oberschule und waren ständig verliebt.
Ja und jetzt. Mangels Masse geschlossen, oder wie?
Almuth, ich hab Verantwortung. Ich hab eine achtjährige Tochter. Wenn mir Butzi nicht immer mal unter die Arme greifen würde, könnte ich mir die Wohnung hier gar nicht mehr leisten. Wenn er nach Berlin kommt, hat er hier noch sein Zimmer. Wir sind hier großgeworden, unsere Eltern sind hier großgeworden und mein Kind wird hier groß, was für ein Privileg, in der Wohnung der Großeltern bleiben zu dürfen.
Ja, sicher, ich hab nur eene Neubaubutze um die Ecke, meine Eltern waren ja nur Arbeiter bei Siemens.
Aber auf die Schule bist du gegangen. Hast Abitur gemacht und studiert.
Schön, daß diesmal Butzi kommt, unterbricht Almuth.
Seit er geschieden ist, kommt er wieder zu uns nach Berlin, was soll er allein in Hamburg.
Almuth schaut Lilo wehleidig an. Deinen Bruder hätt ich genommen, wenn er gewollt hätte. Aber ich bin ihm zu alt. Zwei Jahre zu alt.
Was, das sagst du mir jetzt erst. Du warst in Butzi verliebt? In meinen kleinen Bruder!
Kommt denn Onkel Butzi nicht bald, er muß doch schon hier sein. Petra ist ins Zimmer gestürzt.
Er wird im Stau stecken. Die DDR wird ihn wieder schikanieren, weil er ja in Hamburg als Grüner im Senat sitzt. Hast du denn den Bagger gemalt und das Lied geübt?
Ja, komm mal gucken, ob so ein Bagger aussieht. Petra zieht Lilo aus dem Erkerzimmer. Almuth öffnet wieder das Fenster. Was hat sie früher hier gerne gesessen und runtergeschaut, wenn Butzi Fußball gespielt hat mit den anderen Jungs. Einer schöner als der andere, ne, nich, der Achim war ein Ekel, der hat ihr immer ein Bein gestellt. Einmal hat sie sich an der Tonvase am Eingang zum Park den Kopf so gestoßen, daß sie im Westend-Krankenhaus genäht werden mußte. Seither trägt sie einen Pony, um die Narbe zu verdecken. Sie faßt sich an die Stirn.
Das Telefon klingelt. Ja. Ja, Lilo ist da. Sie ist bei Petra im Zimmer. Soll ich sie holen? Gut, ich sag’s ihr. Wir kommen.
Lilo, Lilo, wir müssen zur Schusterus. Der Gerd-Peter hat angerufen. Der Bagger greift das Haus an.
Mein Gott am Heiligabend. Die Schweine!
Mutti, Mutti, wieso greift der Bagger das Haus an. Ich denk, das ist ein Weihnachtsgeschenk.
Es ist eben kein Weihnachtsgeschenk. Es ist ein Weihnachtskrimi.
Sie ziehen sich die Mäntel an und rennen über die Schusterusstraße in Richtung Wilmersdorfer, über den Gierkeplatz, wo die Luisenkirchenglocken zur Nachmittagsmesse läuten. Frohe Weihnachten, rufen sie, frohe Weihnachten.
Unterwegs treffen sie Achim, den Fußballer von damals und Aktiver von der Bürgerinitiative Klausener Platz. Das alte Charlottenburg war in den siebziger Jahren von einer Abrißwelle bedroht, gegen die sich Anwohner zu wehren begannen. Sie sahen die alten gemeinschaftlichen Strukturen schwinden, Hausgemeinschaften wurden zerstört, Hinterhöfe abgerissen mit der Begründung, daß im Märkischen Viertel neue helle Wohnungen gebaut werden würden. Aber die Leute wollten hierbleiben, wollten sommers vor der Haustür sitzen und ein Schwätzchen halten und im Hinterhof in der kleinen Klitsche Holz zimmern oder Schuhe reparieren.
Viele wollten die neuen Wohnungen da draußen in DDR-Antifaschistischerschutzwallnähe nicht.
Achim ist auch auf dem Weg zu dem alten Haus in der Schusterusstraße, das ein Investor gekauft hat, der es abreißen lassen will, obwohl es denkmalgeschützt ist.
Das ist ein Schildbürgerstreich, schreit er. Almuth zuckt zusammen. So hat er als Junge auch geschrieen, denkt sie, als sie das Loch im Kopf hatte.
Hat der Kerl sich doch gedacht, fährt Achim mit noch mehr Lautstärke fort, Heiligabend sind wir alle beim Plätzchenbacken und er kann in Ruhe das denkmalgeschützte Haus abreißen und einen profitablen Apartmentklotz dahinknallen. Ha, ha, falsch gedacht, Herr Meyer.
Falsch gedacht, Herr Meyer, echot Petra. Kennst du das Lied von dem Baggerführer Willibald, Achim?
Ja, sicher, und er singt laut:
Es ist am Morgen kalt, da kommt der Willibald
und klettert in den Bagger und baggert auf dem Acker
ein großes tiefes Loch - was noch?


Petra plappert: baggert auf der Schusterus
ein großes tiefes Loch – was noch?
Super! Achim wirbelt das Kind in die Luft. Du bist ja großartig.
Petra hast du das Lied heute erst gelernt? fragt Lilo.
Ja, eben mit Achim und Gerd-Peter hat es ja auch gesungen, gestern.
Als sie an der Baustelle ankommen, ist schon die Polizei da.
Sie unterbindet die Weiterarbeit des Baggerführers. Ein Anzugtyp fuchtelt mit einer Aktentasche.
Das ist mein Haus, mein Grundstück. Das ist Staatsterrorismus, keift er, daß die Spucke aus seinen Mundwinkeln spritzt. Er ist rot im Gesicht. Ein ebenfalls mit einem dunklen Anzug und einem schwarzen Mantel bekleideter Mann zeigt ebenfalls seine Aktentasche. Hier ist die einstweilige Verfügung drin. Auch an den Feiertagen arbeiten deutsche Staatsanwälte und Richter.
Und die Polizei, fügt ein unifomierter Beamter hinzu. Und natürlich die Bürgerschaft. Er zeigt auf die umstehenden Menschen, die die Polizei gerufen und sich jetzt in einem Halbbogen um die Baustelle aufgestellt und angefaßt haben.
Gerd-Peter tritt hervor. Wir haben uns bei den Klausener-Platz-Auseinandersetzungen  nicht so gut verstanden, aber nichts für ungut.
Der Charlottenburger ist helle und schnelle zur Stelle!
Alle klatschen. Achim und Petra beginnen zu singen:
Es ist am Morgen kalt, da kommt der Willibald
und klettert in den Bagger und baggert auf der Schusterusstraße
ein großes tiefes Loch - was noch?


Was noch, singen einige andere mit. Eine mächtige Baßstimme singt weiter:

Wie Willibald das sagt, so wird es auch gemacht:
Die Bauarbeiter legen los und bauen Häuser, schön und groß,
wo jeder gut drin wohnen kann, weil jeder sie bezahlen kann…


Und Petra und einige Kinder im Umkreis, darunter auch die Jungs vom Nassen Dreieck, beginnen mit den Füßen zu trampeln:

…der Baggerführer Willibald baut eine neue Schwimmanstalt,
da spritzen sich die Kinder naß, das macht sogar den Baggern Spaß!


Butzi geht zum Plattenspieler und legt eine Kassette ein. Petra für dich. Als dann Petra Butzi, der es gerade noch so zu zum Kerzenanzünden geschafft hat, erzählt, daß selbst die frechen Jungs vom Nassen Dreieck, die den Mädchen immer ein Bein stellen, mitgesungen haben beim Lied vom Baggerführer Willibald, geht Butzi auf Almuth zu, und sagt: Entschuldigung, Almuth. Ich kann mich noch sehr gut erinnern, wie wir Jungs früher dir immer ein Bein gestellt haben und du ein Loch im Kopf hattest. Es tut mir furchtbar leid.
Ach, du warst es doch gar nicht. Es war ja der Achim.
Trotzdem, ich hab dir nicht geholfen, wo du doch die Freundin von meiner Schwester bist. Er umarmt sie. Sie schaut ihm tief in die Augen. Sie sieht ein Funkeln. Hat die Weihnachtsamsel heute vielleicht doch recht gehabt, als sie so wie früher trällerte, hab viel Lieb, hab dich lieb, lieb…
Butzi geht zum Plattenspieler und legt eine Kassette ein. Petra für dich

Es ist am Morgen kalt, da kommt der Willibald
und klettert in den Bagger und baggert auf dem Acker
ein großes tiefes Loch - was noch?


Petra lehnt am Fenster.  Sie singt die beiden letzten Strophen mit:

…der Baggerführer Willibald baut eine neue Schwimmanstalt,
da spritzen sich die Kinder naß, das macht sogar den Baggern Spaß!



Dann schenkt sie ihrem Onkel das selbstgemalte Bild. Das ist ein Weihnachtsbagger, sagt sie, für dich in Hamburg. Damit ihr da auch Wohnungen bauen könnt, die jeder bezahlen kann...



 
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Aus: Jenny Schon,  Finger zeig,
Geest Verlag, Vechta, 2014
ISBN 978-3-86685-470-3