Jochen Keth - Simons Buch
Simons Buch
Schreckliche Bilder rissen den Jungen aus seinem unruhigen Schlaf. Als er seine Augen aufschlug, sah er ein flackerndes Licht, welches den Raum, in dem er sich befand, zart beleuchtete. Etwas benommen schaute er sich um und musste feststellen, dass es kein böser Traum gewesen war, er sich tatsächlich immer noch im Inneren des Kastanienbaums befand. Etwa drei Dutzend Menschen, Frauen wie Männer, aber auch Kinder, lagen, saßen oder standen in seiner Nähe. Einige Gesichter waren ihm bekannt, ande-re nicht. Stumm setzte er sich auf und hoffte insgeheim, seine Eltern zu entdecken, doch wurden seine Hoffnungen nicht erfüllt. Sein Blick ging nach oben. Erst jetzt erkannte er, welch riesige Höhle sich über ihm auftat. Bei schwachem Kerzenlicht diskutierten die Erwachsenen mit ernsten Stimmen. Nein, mit so einem Ort hatten sie nicht gerechnet. Und als stünden sie im Inneren einer mächtigen Kathedrale, so sprangen ihre Fragen, auf die es bislang keine Ant-worten gab, als Echo von den Wänden. Wann wohl würde sich das Tor öffnen? Wie sah die Welt nun aus, aus der sie sich eben hatten retten können? Gab es Überlebende und würden sie nach ihnen suchen? Und wovon sollten sie sich ernähren, falls der Baum sie nicht wieder frei gab? Der Junge, der dem Gespräch der anderen kurz gefolgt war, sah ein Mädchen, das allein in einer Ecke saß, und da er sie vom Sehen kannte, ging er zu ihr und setzte sich neben sie auf den Boden. Das Mädchen, in etwa gleich alt, blickte kurz auf, sprach aber kaum ein Wort. So ent-nahm der Junge seinem Stoffsack den kleinen Ham-pelmann, der sogleich in seiner linken Hand baumel-te, und legte ihn ohne Zögern dem Mädchen in die Hand. „Ich kann meine Eltern nicht finden, aber dich kenne ich. Nur an deinen Namen kann ich mich nicht erinnern.“
In der aufkommenden Freude vergaß sie nun, ih-ren Namen zu nennen. „Und danke für den lächelnden Freund. Aber willst du ihn nicht selbst behal-ten?“
„Ich habe noch etwas anderes bei mir. Es freut mich, wenn er dir gefällt, Marie. Das ist doch dein Name, nicht wahr?“
„Ja, so heiße ich.“
Jetzt huschte dem Mädchen ein verlegenes Lächeln übers Gesicht.
„Hallo Marie, schön, dich kennenzulernen. Ich heiße Simon.“