Karin Gloger - Weihnachten mit Knusperhäuschen

Weihnachten mit Knusperhäuschen


Wo blieb die Zeit?
Sie verging wie im Flug.
Weihnachten nahte und ich bastelte mit den Kindern Sterne und Fensterbilder. An einem dieser Basteltage waren wir uns einig, wir wollten in diesem Jahr ein Knusperhäuschen backen. Die Kinder waren vor Freude ganz außer Rand und Band.  Das Frühstück am nächsten Morgen war angesichts des zu erwartenden Einkaufs schneller als üblich beendet. Die Kuchenteile für das Knusperhäuschen hatte ich, damit sie auskühlten, bereits am Abend zuvor gebacken. Nachdem wir alles, was benötigt wurde, eingekauft hatten, besprachen wir uns kurz, klebten noch gemeinsam die Kuchenteile mit Zuckerguss zusammen, dann ließ ich sie machen. Ich war ihr Handlanger, manchmal Berater, manchmal Schlichter, wenn sie sich nicht einig waren, was und wie etwas gestaltet und gefertigt werden sollte. Jeder wollte das Knusperhäuschen nach seinen eigenen Vorstellungen herausputzen.
Schliesslich war das Häuschen fertig.
Mit Zuckerguss angeklebten Keksen und etlichen Süssigkeiten verziert, schien es förmlich unter der Last zusammenzubrechen. Die Kinder hatten sogar einen Schornstein in dem ein Streifen Watte herauslugte obenauf gesetzt
„Das ist der Rauch“,erklärten sie mir mit roten Wangen und voller Stolz leuchtenden Augen.
Ja, sie konnten zu recht stolz sein auf ihr Werk.
Das Knusperhäuschen sah wunderschön und zum Anbeissen aus.
Als ihr Vater am frühen Abend von seinem Dienst nach Hause kehrte, präsentierten sie dem, mit immer noch vom Eifer erhitzten Gesichtern, ihr selbstgebautes Schmuckstück. Nach eingehender Begutachtung und voller Lobes, musste er den Kindern hoch und heilig versprechen, nichts davon abzubrechen, um es zu essen. Es durfte nicht zerstört werden, sie wollten es nach Weihnachten einpacken und im nächsten Jahr wieder aufstellen, weil es doch so schön war.
Mein Mann und ich wechselten einen raschen, amüsierten Blick.
Hoffentlich hielten die Kinder sich selbst an ihre Abmachung.
Viel zu schnell war Weihnachten vorbei, der Baum wieder abgeschmückt und tatsächlich hatte auch das Knusperhäuschen unbeschadet überlebt. Kaum jemand hatte gewagt davon zu naschen.

Zwei Jahre später.
Wieder verbrachte ich in in der Vorweihnachtszeit einen großen Teil der Zeit mit den Kindern in der Küche. Den krönende Abschluss sollte, wie in jedem Jahr, unsere Weihnachtsbäckerei bilden .Meine Küche glich nicht zum ersten, sicher auch nicht zum letzten Mal, einem Schlachtfeld, was mich allerdings nicht störte, weil die Kinder voller Eifer bei der Sache waren. Während sie ihre Weihnachtssterne ausstachen, drängelten sie, sie wollten ein neues Knusperhaus backen und es sollte noch schöner und grösser, als das alte werden. Als ich allerdings das von ihnen vor zwei Jahren gefertigte Kunstwerk aus seinem Winterschlaf weckte und es ihnen in seiner ganzen Pracht vor Augen führte, änderten sie schlagartig ihre Meinung. Es war so schön! Sie wollten es an Weihnachten erneut aufstellen wollen.
Bevor das Vorhaben jedoch in die Tat umgesetzt werden konnte, wurde das Häuschen gründlich entstaubt und mit frischem Puderzucker bestäubt. Mit dem frischen Überzug sah es aus wie neu. Von Staub und angeknabberten Stellen ala ,Hänsel und Gretel, kaum eine Spur.
Mit Nachdruck ermahnte ich die Kinder, nicht davon zu naschen. Auch wenn es noch so lecker und verführerisch aussah, es war einfach zu alt, wahrscheinlich steinhart und würde für manche Magenverstimmung sorgen.
Am ersten Weihnachtstag luden wir Günther, meinen Bruder, zu uns ein. Er war ein stets willkommener, allerdings mit einem hervorragenden Appetit ausgestatteter und somit ständig hungriger, Gast.
Wir hatten ihn eine Zeitlang nicht gesehen, weshalb die Kinder ausser Rand und Band waren, als er vor der Tür stand. Sie freuten sich riesig über seinen Besuch, zumal er auch noch schöne Geschenke für sie dabei hatte.
Am Abend saßen wir alle im Wohnzimmer vor dem hell leuchtenden Weihnachtsbaum. Die Erwachsenen hatten ein Glas Wein vor sich stehen, die Kinder beschäftigten sich mit ihren neuen Spielsachen und Weihnachtsgeschenken. Kurz gesagt, wir fühlten uns rundum wohl.
Günther, der in der Nähe des Knusperhäuschens saß, lobte dieses über alle Maßen, sagte, wie schön es aussah und dass es bestimmt auch lecker schmecken würde. Er erkundigte sich bei den Kindern, ob sie es selber gebacken hätten. Noch während er sich mit so anerkennenden Worten darüber ausließ, brach er ein Stückchen vom Zaun ab.
Claudia hatte dies wohl gesehen. Sie riss ihre Augen auf und öffnete den Mund.
Erschrocken hielt mein Bruder inne.
Er hatte das Häuschen kaputt gemacht.
„Oh das tut mir leid“, stammelte er, “ das wollte ich nicht.“
Sofort plapperte die Kleine drauf los:
"Onkel Günther, das darfst du nicht, Mama hat gesagt….!“
Weiter kam sie nicht, denn ich fiel ihr ins Wort: „Ach Mäuschen, lass den Onkel Günther doch ruhig am Häuschen knabbern wenn er mag, euch schmeckt es ja doch nicht!“
Noch ehe sie zu weiteren Erklärungen ansetzen konnte, brachte sie mein intensiver Blick zum Schweigen. Sie klappte ihr Klappermäulchen zu und kicherte albern.
Ihr Bruder, Carsten, schaute amüsiert von einem zum anderen, sagte aber kein Wort.
Es schien als wartete er gespannt darauf, dass der Onkel sich das abgebrochenen Stück endlich in den Mund schob.
„Wann habt ihr das Häuschen denn aufgestellt?“ ,erkundigte sich mein Bruder .
„Wie immer am heiligen Abend“, beantwortete ich rasch seine Frage, wobei ich nicht einmal lügen musste und amüsierte mich dabei im Stillen königlich.
Zur Freude aller Anwesenden steckte Günther sich das Lebkuchenstückchen endlich in den Mund. Fasziniert schauten wir ihm zu, wie er scheinbar genüßlich darauf herum kaute.
Eigentlich war es ja hundsgemein von uns, ihm nicht zu sagen, dass das Häuschen nun schon zum dritten Mal unter dem Weihnachtsbaum stand.  Irgendwie schien es Günther unangenehm zu sein, so unter Beobachtung zu stehen.
Er brach ein weiteres Stück ab und bot es Carsten an.
Der jedoch lehnte das Angebot ab mit den Worten: “Wir dürfen nicht, das Häuschen ist staubig und hart!“
Mein Bruder liess sich durch diese Aussage nicht beirren und meinte, dass es doch ganz normal sei, dass Lebkuchen durch die Heizungsluft schnell hart werden würde und ausserdem sei das weisse Pulver kein Staub, sondern Puderzucker und ganz frisch, das müsste er, Carsten doch wissen.
In diesem letzten Punkt hatte Günther recht. Der Puderzucker war ganz frisch!!!!
Weil Carsten offensichtlich nicht probieren wollte, wendete er sich Claudia zu, sagte, sie möge doch wenigstens mal ein ganz kleines Stückchen probieren, es sei einfach nur lecker. Claudia schüttelte nicht nur mit dem Kopf, zudem verzog sie auch ihr kleines Gesicht.
Wie ihr Bruder, so hatte auch sie keine Lust das Angebot ihres Onkels an zu nehmen.
Carsten, älter und pfiffiger als seine kleine Schwester, amüsierte sich sichtlich königlich.
Als ich mich nach meinen Mann um schaute, sah ich das gleiche, schelmische Glitzern in seinen Augen, wie in den Augen seines Sohnes. Süffisant lächelnd erkundigte er sich bei meinem Bruder, ob ihm denn nicht übel werden würde, wenn er nach dem, doch recht deftigen Essen und nicht unerheblichen Weinkonsums, noch so süße Sachen aß.
Wie diplomatisch mein Schatz doch war, diese Seite kannte ich noch garnicht an ihm.
Günther verstand die Fürsorge meines Mannes offensichtlich falsch.
Er entschuldigte sich mit den Worten, dass er den Kindern ihr Knusperhäuschen nicht zerstören wollte, geschweige denn zu viel davon zu naschen.
Wir sollten es doch lieber aus seiner Reichweite nehmen, da wäre es sicherer.
Wie konnte er nur so etwas denken.
Er aß den Kindern doch nichts weg!
Wir gönnten dem guten Onkel die Knabberten von Herzen.
Er möge nur kräftig zulangen.

Leider musste Günther am zweiten Weihnachtstag wieder abreisen, da er noch auf einen Besuch zu den Eltern wollte. Nachdem er seine sieben Sachen zusammengepackt hatte, baten die Kinder mich, das Knusperhäuschen ein zu packen.
Sie wollten es ihrem Onkel schenken, weil es ihm doch so gut schmeckte. Sie würden dann im nächsten Jahr, eine neues, noch schöneres und viel größeres backen.
Zunächst wollte Günther das Geschenk nicht annehmen, als er jedoch merkte, wieviel den Kindern daran lag, nahm er es letztendlich doch, mit dem Versprechen, bis auf die Pappe, alles aufzuessen.
Wochen später fragten ich ihn während eines Telefonats, ob er es denn tatsächlich geschafft hätte, ob er alles aufgegessen und wie es ihm geschmeckt hatte.
Bis auf ein paar wenige, sehr harte Kekse, sei alles sehr lecker gewesen, war die überraschende Antwort.
Über unser Besorgnis, ob ihm danach nicht schlecht geworden sei, lachte er nur.
Er verstand unsere augenscheinliche Besorgnis nicht.
Wie sollte er auch?

Es ist merkwürdig, ich habe nie wieder ein Knusperhäuschen mit den Kindern gebacken. Es war völlig ausreichend an jedem heiligen Abend die Geschichte vorzutragen, wie Günther von dem entstaubten , alten Knusperhäuschen genascht und letztendlich bis auf die Pappe, alles aufgegessen hat.