Kreiszeitung Wesermarsch würdigt Buch und Premiere 'Gefangen in seiner Zeit'

Stimme für Gefangene ihrer Zeit

Brake. Das neue Buch „Gefangen in seiner Zeit“ von Andreas Rüßbült wirft ein Schlaglicht auf die einfachen Menschen während der Zeit des Nationalsozialismus. Zusammen mit seinem Verleger Alfred Büngen stellte der Autor die fiktive Geschichte eines Braker Fischersohns in der Zeit des Zweiten Weltkriegs im „Landhaus Hammelwarden“ vor. Von Paul Leske

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Andreas Rüßbült (links) beschäftigt sich in seinem neusten Buch mit dem Alltag der Kriegsgeneration . Zusammen mit seinem Verleger Alfred Büngen stellte er das Buch im Landhaus Hammelwarden vor. Foto pl

„Die Zeit des Zweiten Weltkrieges und des Nationalsozialismus beginnt sich zu popularisieren“ so die Einschätzung des Verlegers am Sonnabend im voll besetzten Clubzimmer des Landhauses. Bester Beweis sei der kürzlich ausgestrahlte Dreiteiler im ZDF „Unsere Mütter, unsere Väter“. Es gehe heute nicht mehr um Anklage, sondern um Aufarbeitung. Nachdem bereits eine betroffene Generation weitgehend verstorben sei, wachse in den nachfolgenden Generationen das Bedürfnis zu verstehen, was in der Zeit mit den Menschen geschehen sei.

Genau hier setzt die fiktive Geschichte des Heinrich Cohrs an: Sohn eines der zahlreichen Weserfischer im beschaulichen Brake, der gerade die Schulzeit beendet hat und mit 15 Jahren eine Lehre im Kolonialwarengeschäft Meyer beginnt. Die Welt scheint für Heinrich im Sommer 1931 ganz in Ordnung: Strand, das erste Bier, die ersten Mädchen und Freunde – das zählt.

Erste Spannungen werden dadurch sichtbar, dass der Vater gern mal ein Feierabendbier in der Hafenklause trinkt und als bekennender Sozialdemokrat immer wieder mit dem Wirt aneinandergerät. Und Freund Sammy – eigentlich Samuel – hat jüdische Wurzeln, was erste Sticheleien von den sogenannten Braunhemden auslöst. „Das sind doch nur harmlose Spinner“, damit gehen die Jungs wieder zur Tagesordnung über. Wie mächtig sie sich damit geirrt haben, erleben sie Ende des Sommers auf dem Ovelgönner Pferdemarkt, als Sammy dort von den Braunhemden als Jude beschimpft und brutal zu Boden geschlagen wird.

Die Buchvorstellung befasst sich mit dem heraufziehenden Weltkrieg. Auch Heinrich wird eingezogen, und findet sich Anfang der 1940er Jahre gemeinsam mit vielen jungen Männern in den Weiten Russlands wieder. Was Heinrich hier erleben muss, übersteigt an Brutalität und Grausamkeit alles, was die jungen Menschen bisher kannten. Und da der Krieg im Osten weit weg von zu Hause stattfindet, geht die Bindung an Heimat, Familie und ein geordnetes Leben nach und nach verloren. Die fiktive Person Heinrich Cohrs hat noch Glück im Unglück: Ein Granatsplitter trifft ihn und macht ihn fast blind. Das bringt ihn über ein Lazarett in Berlin zurück in die Heimatstadt zu seiner Familie. Hier muss er erst wieder lernen, außerhalb von Tod, Krieg und Zerstörung zu leben. Die Nähe zur vertrauten Umgebung erleichtert ihm die Rückkehr in die Zivilisation. Aber auch seine Familie muss lernen, den einst stattlichen Mann zu akzeptieren, der nur noch ein Schatten seiner selbst ist.

Überregionale Bedeutung

„Wie kommst du dazu, meine Geschichte aufzuschreiben“ ist der Autor im Vorfeld der Buchveröffentlichung gefragt worden. Sicherlich ein Beweis für das behutsame Nachempfinden dessen, was die Kriegsgeneration durchleben musste. Später war es den Überlebenden nur bruchstückhaft möglich, über all das zu reden und es zu verarbeiten.

Das Buch gewinnt damit nach Einschätzung von Autor und Verleger auch überregionale Bedeutung. Denn was der Sohn eines Weserfischers durchlebt hat, könnte ebenso auch in der Familie eines Handwerkers in einer Kleinstadt in Hessen oder Sachsen passiert sein. Es sind nicht die großen Ereignisse, die hier niedergeschrieben sind, es geht um die kleinen Leute, denen Andreas Rüßbült in vierjähriger Arbeit eine Stimme gegeben hat.

Gerade das macht das Buch in diesen Tagen, in denen sich die Machtergreifung jährt und die Debatte um Rechtsradikale hochkocht, so aktuell.