Laura Petretto - Ist doch kein Problem?

Laura Petretto
Ist doch kein Problem?

Ich ärgere mich maßlos über eine Wasserflasche. Wieso habe ich sie nicht einfach auf ein Sims gestellt? Oder bin die paar Schritte gegangen, um sie in meiner Tasche zu verstauen? Doch das war mir zu weit. Es war mir zu viel, und so stellte ich sie auf den Boden und hastete zur nächsten Toilette. Wie lange war ich weg? Zwei Minuten? Höchstens drei vielleicht. Aber das ist im Grunde unwichtig. Fakt ist, dass die Flasche für diese 120 Sekunden auf dem Boden stand. Am Rand, um den Weg nicht zu behindern, gut sichtbar für alle.
Falsch. Gut sichtbar ja, aber nur für diejenigen, die sehen können. Gut sichtbar für mich, die mit einem kurzen Blick ihre Umgebung einschätzen kann. Doch wo ist diese Flasche sichtbar für jene, die nicht mehr sehen können? Die, deren Wahrnehmung der Welt um sie herum verschwommen und zu einer Ansammlung von bloßen Formen geworden ist? Deren Gang vielleicht ein wenig unsicher ist? Und für die eine simple Wasserflasche, gedankenlos auf dem Boden abgestellt, zu einem Risiko werden kann. Zu einer Stolperfalle.
Und das nur, weil ich davon ausgegangen bin, dass meine Perspektive auf die Welt die einzige ist. Dass die Menschen um mich herum ihre Umgebung genauso wahrnehmen wie ich. Dass sich alle in ihr so selbstverständlich und problemlos bewegen können. Dass eine Flasche auf dem Boden keine Gefahr darstellt, eine kleine Stufe vor dem Eingang kein unüberwindbares Hindernis darstellt.
Wenn ich morgens meine Wohnung verlasse, dann ist es eine, die ich mir ausgesucht habe, und keine, die für mich gewählt wurde. Wenn die Bahn streikt und ich den Zug verpasse, kann ich einfach den nächsten nehmen, weil ich mich nicht vorher anmelden muss, um die entsprechende Unterstützung zu erhalten. Auf der Arbeit werden mir auch anspruchsvolle Aufgaben übertragen, ohne dass ständig jemand darauf hinweist, was ich nicht kann. Nach Feierabend kann ich mich noch mit Kolleginnen und Kollegen in irgend-einem beliebigen Café treffen, und beim Einkauf später stören mich weder die Lautstärke noch die Musik oder die schrille Werbung. Zwar ist der Brief vom Amt bei meiner Heimkehr kein Grund zur Freude, doch ich verstehe, dass ich demnächst einen neuen Führerschein beantragen muss. Und abends suche ich mir einfach das Essen aus, welches gerade da ist und worauf ich Lust habe.
Mein Blick auf die Welt ist nur einer von vielen. Unzählige Perspektiven, die ich unmöglich je alle erleben könnte. Die nicht nur aus „Nicht-Können“ im Gegensatz zu meinem „Können“ bestehen, sondern einfach anders sind. Und die ich in dem Moment, in dem ich einfach nur schnell zur Toilette will, vergesse.
Vielleicht sollte ich deshalb aufhören, mich über eine Wasserflasche zu ärgern. Zum Glück ist in dem Moment nichts passiert und mein Frust bewahrt eine andere Person schließlich auch nicht davor, über meine Nachlässigkeit zu stolpern. Doch ich sollte das als Mahnung dafür nehmen, dass meine Sicht nicht das Maß aller Dinge ist. Und dass eine Erweiterung dieser Perspektiven und ein Bewusstsein für deren Grenzen für uns alle als Gesellschaft und als Gemeinschaft nur ein Gewinn sein können.