Manfred Schwab schreibt 'Plädoyer für den lyrischen Erstschlag'

Plädoyer für den lyrischen Erstschlag

Manfred Schwab

aus dem Nürnberger Sozialmagazin 'Straßenkreuzer'

...und einmal, als der greise Nobelpreisträger
tief besorgt um den Frieden der Welt
sein schuldbewusstes Schweigen brach
mit letzter Kraft in der ihm eigenen
viel gelobten poetischen Sprache
seine mahnende Stimme erhob um zu sagen
was er glaubte sagen zu müssen Da fiel
der Anderen Meinung willfährige Schar
ihn an bezichtigte züchtigte ihn
weil nicht sein sollte was möglicherweise
wahr war

Von Alters her ist das Gedicht
ein Angebot für die Aufmerksamen
zu Gespräch und Gedankenaustausch
denn Wahrheit lehrt Habermas wächst
im herrschaftsfreien Diskurs

Was aber brachten die Kritiker vor
gegen dies anstößig friedliebende Poem?
Sie nannten es ekelhaft Scheinlyrik Pamphlet
einen Prosatext stümperhaft billig verschwurbelt
aufgeblasen voll Größenwahn Sie
beschimpften verdächtigten verunglimpften den Dichter
mutmaßten Motive unterbewusst aus
eingestandenen Jugendsünden und grenzenloser
Sehnsucht nach Aufmerksamkeit
Es mangelte sichtlich an besseren
Argumenten als dieser Göttinger Denkmalbeschriftung
"Günni halt's Maul"

Einer der wenigen sachlichen Einwände:
Der Autor verwechsle Ursache und Wirkung
Doch damit verhält es sich beinahe wie
mit der Henne und dem Ei:
Die Spirale der Gewalt wird nie unterbrochen
wenn man bloß fragt
wer fing an

Freilich: man hörte auch andere Stimmen
meist von jenseits der Grenzen des Landes
Ein Besonnener meinte es gäbe da einen
Wettbewerb wer den Autor am besten
und am extremsten beschimpfen könne
Eine Autorin aus jenem Land
das ihrem Kollegen die Einreise verbat
nannte die Debatte kindisch, hysterisch
ein Landsmann , Historiker erkannte gar
einen medialen Amoklauf
Ein Kritiker sprach von der schwärzesten Stunde
der deutschen Literaturkritik
und lobte den Autor als Minenspürhund
der deutschen Literatur

Fachleute zollten Anerkennung
der sprachlichen Qualität des Textes Das sei
ein gutes ein überfälliges tagespolitisches
Gedicht dessen metrische Grundstruktur
die Zeilen zu Versen mache erstaunlich
leicht und genau nach der Lehre Bert Brechts

Lyrik als Gattung betrachtet muss
nicht lyrisch sein nicht stimungsschwanger
sie braucht den Verstand nicht zu fürchten
Prosa-Gedichte gabs im Barock schon
bei Harsdörffer dessen poetischer Trichter
für Beckmesser wenig geeignet scheint
Der freie Vers ein Kind der Befreiung
aus starren einengenden Formen folgte
der Revolution auf den Fuß falls man die Psalmen
in Luthers Deutsch beiseite lässt die
Pate standen beim gestischem Rhythmus Brechts
Er benötigte frei vom üblichen Klappern
gehobene Sprache ohne metrische Glätte
Reime und Versmaß höchstens für Lieder
der Solidarität

Nicht formal neutralisieren wollte Brecht
die Disharmonien der Welt sondern helfen
dass die Menschen die Menschen-gemachten Gründe
ihrer Nöte erkennen konnten Denn:
"Wie soll Kunst die Menschen bewegen
wenn sie selber nicht
von den Schicksalen der Menschen bewegt wird?"

Wahr ist: besorgte Kommentare
über die drohende Kriegsgefahr gab es
auch vor jenem Tabubruch-Gedicht
Aber keine der mahnenden Prosa-Stimmen
löste aus eine vergleichbar entlarvende Debatte
wie diese engagierte Poesie

Ablenkend von Davids atomarer Schleuder
argwöhnte Einer der Autor habe
missbraucht seines Namens Atommacht
Ein anderer sprach von lyrischem Erstschlag
Mag Biermann in seiner Poetenperspektive
keine Angst vor Herz-Schmerz-Reimen zeigen Ich
hab andere Ängste drum liegt mir am Herzen
weil vielleicht heilsam dies gar nicht lyrische
aber sprachmächtige notwendige
Erstschlag-Gedicht