Markus Fegers: Fabelhafte Weihnacht


 


Fabelhafte Weihnacht

Ein alter Wolf wollte Weihnachten feiern. Doch mit wem nur?
Er hatte keinen einzigen Freund im Wald. Niemanden, der bereit war, mit ihm einen Abend, einen Nachmittag oder auch nur eine einzige Stunde zu verbringen.
Früher, da wäre ihm das egal gewesen.
Früher, als er noch der wildeste Wolf weit und breit gewesen war. Freunde hatte er da nicht gebraucht, auf niemanden Rücksicht genommen, mit niemandem geteilt und gefressen, was ihm vor das Maul kam: Wildschweinbraten zu Ostern, saftige Hasenkeulen im Sommer und frischen Fasan am Heiligen Abend.
Fast den gesamten Wald hatte er leer gefressen und sogar die nahe Stadt unsicher gemacht. Hatte alte Damen mit Rollator gejagt und junge, blond gelockte Dinger, die auf zu hohen Absätzen durch die Gegend stolperten.
Niemand war vor ihm sicher gewesen. Doch jetzt? Jetzt war er alt: die Knochen müde, das Fell eher weiß als grau, sein Gebiss faul. Wem sollte er da noch Angst einjagen? Erst gestern waren ein paar halbwüchsige Karnickel um ihn herum getanzt, hatten ihn ausgelacht und ihm frech lange Nasen gezeigt.
Jetzt fehlten ihm die Freunde, die er früher nie vermisst hatte.
„Keiner mag mich“, dachte der Wolf, und ein paar Tränen liefen über seine Schnauze. „Niemand da, der mit mir feiern will!“
Traurig humpelte er in die Stadt. Humpelte durch die Straßen, die voll waren von gehetzten Leuten auf der Suche nach letzten Geschenken.
Schaute auf den grellen, kalt gleißenden Lichterschmuck, hörte endlos leiernde Lieder von rotnasigen Rentieren und fühlte sich noch einsamer als in seinem dunklen Wald.
Er humpelte, stolperte, irrte durch die Gegend, bis er an den Bahnhof kam.
In der zugigen Halle hockte eine Bettlerin auf einem Pappkarton, eine Plastikschale mit einzelnen Kupfermünzen vor sich. Eine Bettlerin? Ein junges Mädchen war es, die blau gefärbten Haaren verfilzt, eine rostige Sicherheitsnadel im linken Nasenflügel und eine Flasche Irgendwas in den Händen.
„He, Alter!“, rief sie mit rauer Stimme. „Du siehst genauso einsam aus wie ich. Komm her, mir ist so kalt. Wärmst du mir die Füße?“
Der Wolf legte den Kopf schief und lauschte.
„Bitte!“, rief das Mädchen.
Der Wolf trottete hin und legte den Kopf auf dünne Beine in löchrigen, neonfarbenen Strumpfhosen. Das Mädchen kraulte und streichelte sein struppiges Fell, und er schnurrte und knurrte und wärmte, so gut er konnte.
„Knurr nur, Alter“, sagte das Mädchen. „Das ist gut. So lange du knurrst, brauche ich keine Angst zu haben. Da traut sich keiner an mich heran!“
Also knurrte der Wolf und knurrte, doch irgendwann klang sein Knurren wie „Hunger, Hunger!“ Zumindest glaubte das Mädchen, so etwas zu verstehen. Rappelte sich auf, durchwühlte die Mülleimer in der Bahnhofshalle und kam mit ein paar angebissenen Hamburgern zurück.
„Da, Alter“, sagte das Mädchen und warf ihm die Brocken hin. „Friss!“
Der Wolf kaute mit seinem fast zahnlosen Maul, das Mädchen nahm einen Schluck aus der Flasche, und dann kuschelten sich die beiden aneinander, schauten hinauf zu dem staubigen Plastikadventskranz unter der Hallendecke und Weihnachten war da.
Irgendwie jedenfalls.