Markus Fegers - Weihnachtswichtel

Weihnachtswichtel

„Jetzt entspann dich mal“, sagt Paul. „Bald ist Heiligabend!“
Wie jedes Jahr treffen wir uns im Weihnachtsdorf auf dem Kirchplatz.
„Du hast gut reden. Keine Ahnung, wie es bei dir aussieht – ich jedenfalls habe noch reichlich zu tun vor dem Fest …“
„Okay …“
„Nicht okay“, sage ich. „Mein Verleger erwartet bis morgen eine nette kleine Adventsstory für seine Homepage …“
„Sollte eine leichte Übung für dich sein!“
„Glaubst du! Mir fehlt bislang jede Idee. Weihnachten ist immer dieselbe lahme Veranstaltung – und alles ist schon erzählt: rotnasiges Rentier, nadelnder Tannenbaum, falsches Geschenk, und so weiter.“
„Lass uns erstmal einen Glühwein trinken“, schlägt Paul vor.
„Alkohol? Mit Promille im Blut kriege ich erst recht nichts auf die Reihe …“
„Dann nimmst du halt ein anderes der gegenwärtigen Jahreszeit gemäßes Heißgetränk zu dir!“
Wie gestelzt Paul formulieren kann! Ich wende mich zum Stand hinter mir. Mal sehen, was dort im Angebot ist.
Die Bedienung, eine junge Frau im roten Pulli mit Aufdruck ‚Adventsengel‘ und weißen Flügeln am Rücken, schaut mich aus großen Augen an – und verblüfft starre ich zurück.
„Jana? Du?“
„Genau. Ich. Hallo Jan …“
„Was machst du hier?“, frage ich.
„Arbeiten, was sonst?“  
„Ich denke, du bist derzeit in der häuslichen Krankenpflege tätig …“
Verdammt, jetzt rede ich schon so geschwollen wie Paul!
Jana hebt eine Augenbraue. „Woher weißt du denn das?“
„Meine Mutter sieht deine Mutter ab und an auf dem Wochenmarkt …“
„Verstehe.“ Jana grinst. „Ja, Pflege stimmt. Wird aber leider zu schlecht bezahlt. Deshalb der Zweitjob hier. Was darf ich denn für dich tun?“
Ich ordere Glühwein für Paul und heißen Kakao für mich, schaue zu, wie Jana die Getränke einschenkt, zahle einen Zehner und trage die Becher zum Stehtisch.
Paul guckt neugierig.
„Jana und ich, wir sind früher gemeinsam zur Schule gegangen“, erkläre ich. „Ist wörtlich zu verstehen. Ich habe sie abgeholt, täglich, über mehrere Jahre. Bis wir uns irgendwann aus den Augen verloren haben …“
„Sie sieht nett aus“, meint Paul.
„Sie ist nett“, sage ich.
„Aber?“
„Nix aber. Sie ist nett. Punkt.“
„Erzähl mir nichts! Da ist doch noch mehr …“
Ich seufze und nehme einen ersten Schluck Kakao. Nicht so süß wie befürchtet. „Na gut: Du kennst den Spruch vom Spatz in der Hand und der Taube auf dem Dach?“
„Sicher. Und?“
„Jana hat eine Kusine. Sandra. Ein knappes Jahr jünger, bildhübsch und mit jeder Menge Figur.“
„Ein echtes Ringeltäubchen“, spottet Paul.
„Alle Jungs waren irgendwann verrückt nach ihr. Ich auch.“
„Also kein Happyend mit Jana?“, fragt Paul.
„Nein. Kein Happyend. Weder mit Jana noch mit Sandra. Ich Idiot habe eine Freundschaft in den Sand gesetzt. Für nichts. Fakt ist allerdings, dass ich inzwischen erklärter Taubenhasser bin. Spatzen dagegen mag ich.“
„Hübsch gesagt.“
Wir trinken und schweigen. Von irgendwo tönt „Last Christmas, I gave you my heart …“. Grauenhaft.
„Weißt du, was lustig ist?“, frage ich endlich.
„Du wirst es mir sagen.“
„Früher, in der Schule, da haben wir immer zu Weihnachten gewichtelt. Jeder zog einen Namen,
geheim natürlich, und besorgte eine Kleinigkeit.“
„Schon klar. Und weiter?“
„Jana und ich zogen uns zweimal gegenseitig – und hatten beide Male exakt das gleiche Wichtelgeschenk für den anderen.“
„Ist nicht wahr!“
„Doch. Im vierten Schuljahr einen Playmobil-Weihnachtsengel, und später, in der Pubertät, als die ganze Sache nur noch peinlich war, eine absolut kitschige Schneekugel.“
„Bingo“, sagt Paul. „Das ist es doch!“
„Was?“
„Das ist der Plot für deine neue Story! Die identischen Geschenke! Oder hast du auch darüber schon geschrieben?“
Ich schüttle den Kopf.
„Dann los!“
„Wenn du meinst …“
„Unbedingt“, sagt Paul und kippt den Rest seines Glühweins hinunter. „Bring das Leergut zurück,
zisch ab und geh an die Arbeit! Hopp, hopp! Wir können ja die Tage noch mal telefonieren …“

„Hat’s geschmeckt?“, fragt Jana.
„Hat es. Wirklich gut.“ Ich stelle die Becher auf den Tresen. „Apropos gut: Geht’s euch gut, dir und deiner Kleinen?“
Jana hebt die Brauen, legt die Stirn in Falten und starrt mich an.
Früher haben wir Jungs ihre Augen immer Hexenaugen genannt. Bernsteinfarben, mit grünen, schwarzen und goldenen Sprenkeln. Guck nicht hinein, sonst wirst du verhext!
Ich gehe das Risiko ein und halte ihrem Blick stand.
„Von Mona weißt du also auch“, stellt Jana fest.
„Wie gesagt: Unsere Mütter …“
Die Becher werden sorgfältig in die Spülmaschine geräumt. Jana lässt sich enorm viel Zeit dabei.
Endlich wendet sie sich wieder zu mir. „Wie es uns geht? Ist nicht immer ganz einfach, so als alleinerziehende Mama. Aber gejammert wird nicht. Mona hat einen Kita-Platz, seit sie drei ist, und meine Mutter hilft gerne …“
„Schön.“ Ich verzichte auf die Frage nach Monas Vater. Geht mich ja auch nichts an. „Du, es war
nett, dich mal wieder zu treffen, nur: Jetzt muss ich los. Hab noch zu arbeiten. Frohes Fest, falls wir uns nicht …“
„Ich bin auch morgen hier“, unterbricht mich Jana. „Und an Heiligabend genauso. Bis achtzehn Uhr.“
Ich nicke und mache mich davon.

Der Spielzeugladen um die Ecke hat schon geschlossen, als ich vorbeikomme, aber dennoch werfe ich einen Blick ins Schaufenster – und frage mich, ob ich nicht eine Kleinigkeit für Mona besorgen sollte.
Einen Weihnachtsengel vielleicht. Als Reminiszenz an die gemeinsamen Kindertage von Jan und Jana.
Gute Idee? Na ja. Werde noch mal drüber nachdenken müssen. Nicht nachdenken muss ich dagegen über den Titel meiner neuen Geschichte: ‚Weihnachtswichtel‘ ist gesetzt. Dank Paul.
Und dank Jana.