Morgen 1. Hörspieltag mit Schülern des Projekts: Die Geschichte Esthers im Nationalsozialismus in Brake

Morgen startet mit einer Gruppe von etwa 10 bis 15 Schülern die Umsetzung des Romans, den die SchülerInnen von Pestalozzischule und Gymnasium Brake über das Leben der Esther Schmidt im Nationalsozialismus geschrieben haben in ein Hörspiel.

Hier ein erster Auszug aus dem Roman

Ein Montagmorgen im Jahr 1933

Montagmorgen. Dutzende von Menschen streben den Geschäften in der Breiten Straße in Brake zu. Brot, Butter, Milch, Fisch, Gemüse – alles für den Haushalt will nach dem Sonntag besorgt sein. Zumeist sind es Hausangestellte und Hausfrauen, nur ganz selten dazwischen ein Mann. Von Ferne sieht man am Anfang der Breiten Straße ein jüngeres, vielleicht vierzehnjähriges Mädchen. Zwischen all den Menschen würde sie kaum auffallen, würde sie nicht auf einer schwarz-weißen Kuh sitzen.
Das Mädchen, Hildegard ist ihr Name, wird heute sicherlich zu spät zur Schule kommen, denn der Unterricht beginnt schon in wenigen Minuten. Warum sie zu spät ist? Bei Hildegard weiß man nie so genau, welche Ideen sie gerade wieder hat. Aber was heißt hier zu spät zur Schule, es gibt drei Schulen im Ort. Die meisten Jugendlichen, die in diesem Roman ihre Geschichte erzählen, besuchen die Volksschule Harrien. Dann gibt es noch das Gymnasium in der Kirchstraße, das aber die meisten Jugendlichen nicht besuchen können, weil es doch ganz schön viel Schulgeld kostet. Und es gibt eine Sonderschule, übrigens gleich neben der Volksschule, auf die all die gehen, die etwas Schwierigkeiten mit dem Lernen haben.
Das hat nicht unbedingt etwas mit dem Geld zu tun, denn Brake ist zu diesem Zeitpunkt eine relativ reiche Stadt. Der Hafen, der Schiffsbau, die Fettraffinerie und auch die Landwirtschaft spülen das Geld in die Kassen der Stadt, der Unternehmen, aber auch der vielen Arbeiter- und Angestelltenfamilien. „Jede dritte Scheibe Brot und jedes zweite Pfund Margarine kommen aus Brake“, erzählt man sich allgemein im Deutschen Reich über die Stadt in der Wesermarsch.
In diesem Buch erzählen Mädchen und Jungen, alle zu dieser Zeit 14 oder 15 Jahre alt, die Geschichte ihrer Jugend, denn es ist eine sonderliche Zeit. Das merkt man in der Breiten Straße an diesem Tag ganz besonders. Überall hängen noch die blutroten Fahnen mit dem Hakenkreuz. Gestern gab es großen Besuch in der Stadt. Reichsstatthalter und Gauleiter Röver war zu Besuch und die NSDAP, die Hitler-Jugend, der Bund Deutscher Mädel und andere Organisationen bis zu Feuerwehr und Sportvereinen hatten ihm zu Ehren mit viel Blasmusik, Fahnen und Uniformen einen Aufmarsch veranstaltet. Tausende hatten am Straßenrand gestanden und ihrem Gauleiter zugejubelt. Der Bürgermeister hatte ihm feierlich die Grüße ‚seiner‘ Braker Bevölkerung überbracht.
Hitler ist vor etwa einem halben Jahr zum Reichskanzler ernannt worden, Gauleiter Röver schon mehr als ein Jahr Reichsstatthalter im Freistaat Oldenburg, zu dem auch die Wesermarsch und Brake gehören.
Der Alltag der Jugendlichen, von denen diese Geschichte handelt, hat sich eigentlich durch den Sieg der Nationalsozialisten erst einmal wenig gewandelt. Auch nicht an diesem Montagmorgen, als sie jeweils ihren Schulen zustreben.

Esther ist an diesem Morgen schon früh mit dem Fahrrad von Berne nach Brake zur Schule gefahren. Der Weg ist dunkel und nebelig. Es ist noch ziemlich frisch, ja beinahe kühl so in der Frühe, der Weg ist bröckelig und viele Schlaglöcher erschweren ihr den Weg. Der andauernde Regen der vergangenen Nacht hat die Löcher mit tiefen Pfützen gefüllt. In einer Kurve verfehlt sie den sicheren Tritt, rutscht von der Pedale ab, will sich mit dem Fuß vom Boden abstoßen und landet dabei mit einem Mal ungeschickt in einer der grauen Pfützen, sodass ihr rechter Halbschuh sich mit dem schmutzigen Wasser füllt, das die Socke durchnässt. „So ein Mist! Ich Schlemihl!“, entfährt es ihr. „Gleich werden sie mich in der Schule wieder hänseln.“
Esther ist das einzige jüdische Mädchen in der Klasse, wobei sie eigentlich noch nicht einmal weiß, was das ist, eine Jüdin, jedenfalls weiß sie wenig, eigentlich nichts über ihre Religion. Ihre Mutter ist keine praktizierende Jüdin, hat sie nur einmal mitgenommen nach Oldenburg in die Synagoge. Esther weiß nicht viel über die jüdische Religion und Tradition. Sie ist auch mit 12 Jahren keine Bat-Mizwa, keine Tochter der Pflicht geworden. Auch wenn ihre Mutter darauf besteht, dass sie die jüdischen Feste feiern. Allerdings kennt Esther das eine oder andere jüdische Schimpfwort, hat sie von ihrer Schwester gelernt. Ihr Vater ist evangelisch und arbeitet als Zeitungsredakteur in Brake. Der Weserbote, heißt die Zeitung. Ihre Eltern hatten sich damals in Berlin kennengelernt, wo der Vater studiert, die Mutter in einer reichen, sehr liberalen jüdischen Familie gelebt hat. Da Der Weserbote einen Redakteur suchte, hat es das junge Ehepaar nach Brake verschlagen. In Berne haben sie ein billiges Haus zur Miete gefunden.
Esther ist im Gegensatz zu ihrer etwas älteren Schwester, die zugleich ihre beste Freundin ist, erst in Brake zur Welt gekommen. Ihre Schwester ist schon in Berlin geboren.
Von Berne nach Brake mit dem Rad, ein Bus fährt zu dieser Zeit für die Schulkinder noch nicht, Esther benötigt jeden Morgen fast eine Stunde. Zumeist fährt sie mit ihrer Schwester zusammen, die sich aber heute unwohl fühlt und zu Hause bleiben muss. Übrigens fährt auch ihr Vater zumeist mit dem Rad. Es besteht zwar auch eine Fahrmöglichkeit mit der Bahn, doch die Familie muss sparen, denn das Gehalt eines Redakteurs ist niedrig genug. Und die Mutter wird von ihrer reichen Familie aus Berlin nicht mehr unterstützt.
Heute ist Esther zu früh in der Schule, erst wenige Kinder laufen auf dem Pausenhof herum. Sie setzt sich auf eine Schaukel, dem einzigen Spielgerät auf dem Pausenhof, und wartet auf das Klingeln. Nach und nach treffen die anderen Schülerinnen und Schüler ein. Einige wenige werden sogar mit dem Auto gebracht, aber das sind nur die Kinder von den ganz Reichen, denn ein Auto hat zu dieser Zeit fast niemand. Etwas abseits entdeckt Esther Gerhart. Mit gesenktem Kopf versucht sie, seine Blicke zu erhaschen. Gerhart scheint auf dem Weg zur Sonderschule zu sein. Er lächelt zurück, verschwindet aber gleich darauf aus ihrem Blickfeld.
Endlich klingelt es. Alle Schüler nehmen Aufstellung, nach Klassen getrennt, immer zu zweit nebeneinander, Mädchen und Jungen getrennt, gehen dann, ohne dass auch nur ein Flüstern zu hören ist, in die Klassenräume. Esthers nasser Schuh quatscht bei jedem Schritt, sodass die Blicke aller Schüler bald auf sie fallen, sie hat es ja geahnt. Friederike ruft von hinten: „Na, Esther, kein Geld für neue Schuhe?!“ Esther bleibt stumm – ‚warum macht Friederike das? Ich dachte, sie ist meine Freundin?‘
In der ersten Stunde hat die Klasse Rechnen. Der Lehrer gibt den Schülern ihre Arbeit zurück, die sie in der letzten Woche geschrieben haben. Esther hat ein gutes Gefühl, hat sie doch viel für die Arbeit gelernt. Sie schlägt das Heft auf und … ‚Eine Vier? Wieso habe ich eine Vier?‘ Den Lehrer zu fragen, wagt sie sich natürlich nicht, denn die Entscheidung des Lehrers ist unantastbar und heilig. Doch in der Pause vergleichen ihre beste Freundin Marlies, die eine Eins hat, und sie ihre Arbeiten. Sie haben fast übereinstimmende Rechenwege und sind zu den gleichen Ergebnissen gekommen. ‚Warum hat Marlies eine Eins bekommen und sie …‘ Ihr Heft ist beschmiert mit lauter roten Fs. Ihre Freundin Marlies ist außer sich vor Wut. „Das ist ungerecht, dem werd ich’s zeigen“, ruft sie. Sie vergisst, dass die Worte und Entscheidungen des Lehrers unangreifbar sind.
Gleich nach der Pause meldet sie sich. „Herr Pokensack“, so heißt ihr Klassenlehrer, „ich verstehe Ihre Zensur nicht. Esther und ich haben überall die gleichen Ergebnisse und die gleichen Rechenwege. Doch sie hat eine Vier und ich eine Eins –“ Marlies Worte verhallen in ihrer Kehle, wie Reiszwecken sind sie in den Raum gefallen. Die Augen von Lehrer Pokensack verengen sich zu Schlitzen. Marlies ist plötzlich etwas erschrocken über ihren Mut, ihrem Lehrer die Meinung zu sagen, aber diese Gemeinheit lässt sie nicht los. „Das ist doch ungerecht“, spricht sie weiter, „haben Sie Esther eine schlechtere Note gegeben, nur weil sie eine Jüdin ist …?“
In der Klasse wird es totenstill, nur das tiefe Schnaufen des Lehrers ist zu vernehmen, sein Kopf wird puterrot. Mit einem Mal schreit Lehrer Pokensack los: „Du unverschämte Göre! Dir werd ich’s zeigen, mir so etwas zu unterstellen …“
Für den Rest des Unterrichts muss Marlies in der Ecke stehen. Esther hat Mühe, die aufsteigenden Tränen zurückzuhalten. Sie wollte nicht, dass ihrer Freundin so etwas passiert. Bestimmt hat der Lehrer doch Recht und sie hat nur die Fehler nicht gesehen in ihrer Arbeit. ‚Hätte ich doch nichts zu Marlies gesagt und ihr das Heft nicht gezeigt!‘, sagt sie zu sich selber.
Endlich das Klingeln zur Pause. „Verschwindet aus meinem Blickfeld“, knurrt Lehrer Pokensack die beiden Mädchen an.
Esther und Marlies stehen in der Ecke des Pausenhofs. Esthers Magen knurrt – „Meine Mutter hat mir mal wieder nichts zu essen und zu trinken eingepackt.“ Esthers Mutter ist im Moment mit ihren eigenen Belangen beschäftigt. Die Angriffe gegen ihre jüdischen Freunde und Familienangehörigen, die Flucht vieler in alle Welt beunruhigen sie zutiefst. Auch ihre Familie in Berlin wandert gerade nach Amerika aus. So kann sie nachts kaum noch schlafen und vergisst darüber ihre Tochter.
Zum Glück packt die Mutter von Marlies immer reichlich für ihre Tochter ein, auch Obst und eine kleine Süßigkeit. Marlies‘ Mutter ist eine ganz liebe, nette Frau. Esther kennt sie von einigen Besuchen bei Marlies. Die Familie besitzt eine große Villa in der Nähe der Breiten Straße und hat sogar ein Dienstmädchen. Kein Wunder, Marlies‘ Vater ist NSDAP-Ortsgruppenleiter. Das Donnerwetter am Frühstückstisch ist Marlies noch immer gegenwärtig: Esther, ihre beste Freundin, sei eine dreckige Jüdin, hatte ihr Vater gesagt. „Ich will sie nicht in unserem Haus sehen und untersage dir jeglichen Umgang mit diesem Judenpack.“ Die Tochter eines NSDAP-Gruppenleiters habe Vorbild zu sein für ihre Mitschüler. ‚Es macht mir Angst, wenn er so redet. Wieso hasst er Esther so? Was ist denn an ihr so jüdisch? Aber mit meinem Eintreten heute war ich vielleicht Vorbild für meine Mitschüler, nur anders als mein Vater hofft.‘
Esther und Marlies versuchen, sich gegenseitig von dem Vorfall mit der Arbeit abzulenken, abwechselnd springen sie mit dem Seil. Nach einiger Zeit hocken sie sich auf den Boden. Marlies erzählt ihr mit einem Mal von ihrem Vater, der ja ein ziemlich hohes Tier in der NSDAP ist. Marlies hasst sein nationalsozialistisches Gerede und seine größenwahnsinnigen Ansichten. Sie erzählt vom Jähzorn ihres Vaters und auch von seiner Gewalttätigkeit ihrer Mutter und auch ihr gegenüber. Esther hört zu. Esther fühlt sich an den Jähzorn ihres eigenen Vaters erinnert. ‚Ob alle Väter so sind?‘
Der Deutschunterricht beginnt. In der nächsten Stunde will Lehrer Pokensack direkt die Hausaufgaben sehen. Esther meldet sich, um zuzugeben, dass sie ihre Hausaufgaben nicht gemacht hat. Widerwillig reagiert Pokensack auf ihre Meldung. Stockend erklärt Esther: „Ich … ich … habe meine, meine Hausaufgaben nicht gemacht, weil es zu Hause in letzter Zeit so viel Durcheinander gibt.“
Es gibt kein Vertun. Kurze Zeit später steht sie in der Ecke und darf von dort aus dem Unterricht folgen. Aber bei Pokensack vergeht kaum eine Stunde, dass nicht einer der Schüler in der Ecke steht.
Esther hört, wie Friederike ihren Hausaufsatz über London vorliest:

London

London, die Hauptstadt Englands, ist nach New York, die zweitgrößte Stadt der Welt. Es liegt zu beiden Seiten der Themse und hat 8 Millionen Einwohner. Der innere Teil der Stadt, die City, ist einer der wichtigsten Welthandelsplätze. Der vornehmste Teil Londons ist Westminster, und in Southwark wohnen Millionen von Arbeitern in Elendsquartieren. In der Nähe Londons liegt die Stadt Greenwich, berühmt durch eine Sternwarte. Von hier aus werden die Längenkreise oder Meridiane gezählt.