NICOLE STEFFENS, Die Traumreise

NICOLE STEFFENS, DORNBURG
Die Traumreise

Keiner hat mich gesehen.
Schnell rein.
Tür zu.
Ruhe. Endlich!

Ich atme ein, atme aus. Atme wieder ein und wieder aus. Den-ke beim Einatmen „ganz“ und beim Ausatmen „ruhig“, krame eine Notfalltablette aus der Hosentasche und kontrolliere, ob die Toilettentür wirklich abgeschlossen ist. Klappe den Klode-ckel runter, setze mich darauf und lehne den Kopf gegen die Fliesen.

Einatmen „Ganz“
Ausatmen „Ruhig“
Ich schließe die Augen.

Nach einem langen Spaziergang durch den hellgrünen Früh-lingswald, vorbei an weiß strahlenden Birken und mächtigen Eichen, begleitet vom Zwitschern junger Vögel, stehe ich in einem sonnigen, rundum verglasten Raum. Von hier sehe ich hinunter zur Altstadt, seitlich liegt der Fluss und im Hinter-grund der Feldberg. Lächelnd gehe ich zur Leinwand. Ich male eine Frau mit Prada-Brille und weißem Badeanzug. Sie springt rückwärts in einen Pool mit türkisblauem Wasser.
Arschbombe Deluxe.
Gegen elf setze ich mich an den cremefarbenen Beistelltisch mit gedrechselten Beinen. Aus dem rosa Cocktailsessel sehe ich auf die geöffnete Holztruhe. Sie ist bis oben mit Büchern gefüllt, alle ungelesen und als Geschenk verpackt. Bei einigen erkenne ich durch die Größe oder anhand des Etiketts der Buchhandlung, um welches Buch es sich handelt. Bei anderen bringt das Auspacken eine echte Überraschung. Ich entscheide mich für ein undefinierbares rotes Päckchen.
Während ich lustlos blättere, geht mein Blick nach oben. Der Raum hat eine gläserne Decke. Fasziniert vom intensivblauen Himmel mit kleinen, weißen Wölkchen stehe ich auf, um mich auf den Boden zu legen.
Da passiert es.
Der Raum teilt sich. Zwischen der Parkettreihe, auf der ich sitze, und der, auf der ich meine Beine ausstrecken will, klafft ein Loch. Ich versuche meine Beine anzuwinkeln, aber es ist zu spät. Mit meinen Fersen habe ich den Raum zerteilt.
Ich starre 20 Meter in die Tiefe.
Mein Atem stockt.
Ich lasse mich vorsichtig nach hinten sinken. Mit angewinkel-ten Beinen flach auf dem Holzboden liegend merke ich, wie über meinem Kopf ein ebenso großer Spalt klafft.
Ich schwebe auf einer Holzplanke, die höchstens einen Meter breit ist und nur an den beiden Enden des Raums Halt hat. Ich drehe mich ganz langsam auf den Bauch und krabbele vor-sichtig auf allen vieren Richtung Ausgang. Meine Hände sind so glitschig, dass ich mich kaum halten kann. Bis zur Tür sind es höchstens drei Meter. Also: rechten Arm nach vorne stre-cken, rechtes Knie hinterherziehen, linken Arm davorsetzen und das linke Bein nachziehen. Wiederholen.
Ich verharre.
Mein Atem stockt. Das Parkett scheint plötzlich nur noch ein dicker Stoff in Holzoptik zu sein.
Ich hänge durch.
Ich schaukle.
Ich habe Höhenangst und einen freien Blick nach unten.
Mit Händen und Füssen klammere ich mich an den Stoff, schließe die Augen und öffne sie sofort wieder. Zentimeter für Zentimeter ziehe ich mich voran.
Irgendwann komme ich an.
Ich löse vorsichtig eine Hand, suche Halt im offenen Türrah-men, klammere mich erst mit der linken, dann mit der rechten Hand fest, hole Schwung, ziehe mich rein und falle auf den sicheren Fußboden.

Leise Geräusche irritieren mich.
Sie kommen aus mir. Ich atme laut, ich fiepse. Der Schweiß tropft von meiner Nase, läuft über mein Kinn, fließt den Hals hinunter. Mein T-Shirt klebt an mir. Meine linke Gesichtshälf-te pocht, ein pulsierender Schmerz zieht die Schläfe hoch über das Auge bis zur Stirn. Ein lauter Pfeifton hält mich davon ab, einen klaren Gedanken zu fassen.
Mein Körper zuckt, Mundwinkel und Kinn sind feucht.
Ich öffne die Augen.

Im Vorraum wasche ich Gesicht und Hände, binde die Haare neu zusammen, richte Shirt und Hose.
Auf dem Gang begegnet mir mein Chef.
„Na, alles klar bei Ihnen?“
„Alles traumhaft“, sage ich und lächle.