Nina Tröger, Hamburg, Heimat ist nicht immer perfekt, stellte ich fest, als mein Vater starb

Nina Tröger, Hamburg
Heimat ist nicht immer perfekt, stellte ich fest,
als mein Vater starb

Erstens: Was wir nicht hatten

Wir hatten oft keine Ahnung und keine Erkenntnis,
wer Du oder ich, wer wir eigentlich waren.
Kein Wissen übereinander und oft kein Verständnis
für unser anderes Sein.
Wir sind mit diesem Vater-Tochter-Ding im Dunkeln gefahren.
Volle Kanne voraus, beizeiten gegen die Wand.
Wir hatten keine Orte, um Wunder zu teilen,
und keine Worte, um Wunden zu heilen.
Zum Reisen durchs Leben kein gemeinsames Land.

Wir hatten keine Zeit,
hatten für unsere Sorgen
weit und breit
keine Lösungen,
keine Versuche
und für uns beide kein Morgen.


Zweitens: Was wir hatten

Wir haben Stunden um Stunden Deinen alten
Tonbändern gelauscht.

Ich auf Deinem Schoß, hab’ mich in Johnny Cash
und Elvis verliebt.
Ich habe Kindheit gelebt,
wo das Meer hinter den Deichen rauscht,
wo es Milch noch in Kannen und Krabben vom Kutter gibt.
Wir sind mit dem Ruderboot gefahren über kleine
und große Wellen.
Und ich war stolz,
denn ich durfte einmal den Behelfsmotor anstellen.
Wir hatten Regentropfengeräusche auf dem Dach eines Zeltes.
Einen 7 Quadratmeter großen Wohnwagen,
der der Mittelpunkt meiner Kinderwelt ist.
Wir hatten 18, 20, zwo, null,
das Spiel gehört Dir.
Wir hatten Freiheit bis zum Abendessen und
viel zu viel zu viel Geschenkpapier.
Wir hatten Käsebrötchen, die schmeckten wie Wolken,
das haben wir uns so gesagt.
Sind mit James Stewart auf klapprigen Gäulern
durch die Prärie gejagt.

Was Dich und mich verbindet,
sind die Einfachheit und das Gefühl
von Heimat in der Natur.
Ich kann einen Fahrradschlauch selber wechseln
und beherrsche Deine Art der Fernsehapparatreparatur:
oben rechts draufkloppen, bis es nicht mehr flimmert.
Ich hatte immer drei Kartöffelchen auf dem Teller,
den Spitznamen Frosch
und im Keller das coolste Jugendzimmer
Wir hatten einen letzten Sommer,
den wärmsten und längsten
mit gefallenen Äpfeln und geschnittenem Wein,
mit einer Brieffreundschaft und entwaffnender Ehrlichkeit.
Und beide mit Ängsten
vor unserem ersten und einzigen
Ausflug in das Vater-Tochter-Sein.


Drittens: Was wir haben

Wir haben die Freiheit, uns zu entscheiden.
Wir können betrachten, was wir nicht hatten,
können uns ausstatten
mit dem Gefühl von Verlust.
Mit der Trauer um etwas, das niemals war,
mit der Wut über das,
was falsch gewesen ist,
mit dem Unglück,
das unsere Liebe frisst.

Doch wir haben auch die Freiheit,
uns anders zu entscheiden.
Wir können die leichten Dinge bewahren,
können Bilder malen,
auf denen die gewonnen Farben bunt bleiben.
Wir können ein paar Geschenke auspacken,
die es ohne Papier und kostenfrei gibt.
(Sonnenauf- und -untergänge.)

Und respektieren und daran glauben, dass jeder irgendwie anders ist und auch anders liebt.
Wir können den Tod betrachten als verlorene Möglichkeit.
Oder als den Beginn und den Gewinn der Unendlichkeit.

Denn unsere Erinnerungen, die sterben nicht.
Deshalb scheint aus diesem letzten Sommer,
dem wärmsten, dem längsten,
auf unser Vater-Tochter-Ding
ein kleines, unendliches Erinnerungslicht.