Norbert Büttner - Eine Unterrichtung

EINE UNTERRICHTUNG


Der Humorist konnte es einfach nicht lassen, überall seine oft geschmacklosen Witze anzubringen. So hielt er in der Oper zu Beginn der Pause, als alles ins Foyer strömte, seine Begleitung zurück. Er zeigte auf eine Loge mit verschlossenen Vorhängen und sagte: „Wisst ihr, wer heute hier ist?“
Keiner hatte eine Ahnung.
„Es ist der Präsident“, sagte der Humorist andächtig. „Pscht, seid leise, er arbeitet.“
„Was macht er denn?“, flüsterte die Begleitung.
„Er unterzeichnet Todesurteile“, sagte der Humorist und weidete sich an den fassungslosen Mienen seiner Begleitung.
Mitten in der Nacht wurde der Humorist von Si-cherheitskräften aus seiner Wohnung geholt und in eine stockschwarze, völlig abgeschirmte Zelle gesperrt. Der Humorist, der nicht einschlafen konnte, nahm nur ein Geräusch war, und das war sein eige-ner, vor Aufregung rasselnder Atem.
Nach der Nacht brachte man den Humoristen in den Palast zum Präsidenten.
„Ist das nicht ein herrlicher Morgen?“, begrüßte ihn der Präsident. „Diese klare Luft, diese paradiesische Stille, nur von etwas Vogelzwitschern untermalt – da gewinnt man für den ganzen Tag Lebensfreude.“
Eingedenk seiner Nacht hielt der Humorist es für besser zu schweigen.
„Sie sind sicherlich sehr überrascht, jetzt hier zu sein“, sagte der Präsident, „aber ich liebe die Literatur, vor allem Humor und Satire. Man behauptet, dass Sie darin ein Meister sind.“
„Das ist übertrieben“, sagte der Humorist, „ich versuche nur, die Leute ein wenig zu erheitern.“
„Leider habe ich kaum Zeit für die schönen Küns-te“, seufzte der Präsident. „Die Geschäfte, die Geschäfte. Da bleiben die Annehmlichkeiten des Lebens oft auf der Strecke.“
In dem Zimmer, fast so groß wie ein Saal, war für den Präsidenten das Frühstück angerichtet: ein gekochtes Ei, ein frisches Brötchen, Butter, Marmelade, Orangensaft und schwarzer Tee.
„Kann ich Ihnen etwas anbieten?“, fragte der Präsident.
„Nein, danke“, erwiderte der Humorist, „ich habe so früh noch keinen Appetit.“
Der Präsident schnitt das Brötchen auf.
„Ich habe gehört“, sagte er, „dass Sie sich sehr für meine Tätigkeit interessieren. Aber Ihnen ist dabei ein Irrtum unterlaufen in Bezug auf die Todesurteile.“
Er zog eine Ledermappe heran und schlug sie auf. Schaudernd las der Humorist auf dem ersten Blatt seinen Namen.
„Ich versuche den Tag so angenehm wie möglich zu beginnen“, sagte der Präsident, „und darum unterschreibe ich die Todesurteile immer vor dem Frühstück.“
Schwungvoll setzte er seine Unterschrift auf das Blatt.
Der Humorist war erblasst.
„Nicht immer werden sie auch sogleich vollstreckt“, sagte der Präsident, „manchmal genügt es, dass sie unterzeichnet sind, um die Leute zur Vernunft zu bringen.“
Der Humorist begann zu zittern. Er versuchte es zu unterdrücken, aber er konnte nicht verhindern, dass jetzt sogar seine Zähne klapperten.
„Ich glaube, Sie haben jetzt erfahren, was Sie unbedingt wissen wollten“, sagte der Präsident und lächelte. „Sie sehen schlecht aus, mein Lieber. Ich würde Ihnen vorschlagen, sich für einige Zeit aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen und sich erst mal gründlich zu kurieren. Und wenn Sie wieder etwas über meine Arbeit wissen wollen, sagen Sie mir rechtzeitig Bescheid, damit ich Ihren Wünschen entsprechen kann. Sie wissen ja: Ich liebe die Literatur.“