NWZ bringt erste Vorveröffentlichungen aus der Anthologie 'Winterreise' der Berner Bücherwochen
„Jugend bis hart an den Vorruhestand“
Bücherwochen Pastor Thomas Ehlert schreibt für die Anthologie „Winterreise“
Berne „Ich beobachte, dass es fast keine gesellschaftlichen Standards von Reife und Verantwortungsbewusstsein mehr gibt, die ab einem bestimmten Alter schlichtweg vorauszusetzen sind.
Es gibt ferner kaum noch einen Konsens darüber, welche Dinge, Informationen und Verhaltensweisen einem Lebensalter angemessen sind. Einerseits werden Kinder heute im Alter von fünf Jahren von Kriegsbildern und Werbebotschaften der Erwachsenenwelt überschwemmt, andererseits verhalten sich 50-Jährige wie 20-Jährige, die immer noch von der einsamen Strandhütte auf Bali träumen.
Immer mehr Mittdreißiger verlängern ihre Jugend bis hart an den Vorruhestand. Es gibt „kindische“ bzw. „dauerpubertierende“ Erwachsene im Unterschied zur positiv besetzten Kindlichkeit der Kinder und den „kindlichen Elementen“ im Erwachsenen.
Im Jahre 2007 wagte der Psychotherapeut Jörg Müller mit seinem Buch: „Die infantile Gesellschaft“ eine gewaltige Diagnose. Die Produktbeschreibung für dieses Buch gibt kund: „Der nicht erwachsen gewordene Mensch ist häufiger anzutreffen, als wir vermuten. Sein Erscheinungsbild ist vielfältig, hat aber als gemeinsame Grundlage ein zutiefst verwundetes Selbstwertgefühl. Der zunehmende Schamverlust, die Selbstverliebtheit, das Spiel mit den Gefühlen, die Gewaltbereitschaft und das Wegschauen bei Notfällen: All das sind Symptome einer infantilen, unmündigen Gesellschaft.“ In der Talkshow „Drei nach Neun“ ordnete die Fernsehmoderatorin Petra Gerster kürzlich das Treiben der Spekulanten, die mit Milliardenbeträgen wie Kinder mit Monopoly gespielt und damit fast das Nervensystem der Volkswirtschaften lahmgelegt haben, dem Phänomen von „Nicht-Erwachsen-werden-wollen“ und „Verantwortungsverweigerung“ zu. Eine mutige Diagnose!
Bleibt zu fragen: Was für Erwachsene haben unsere Kinder vor Augen? Können Sie sich an denen „abarbeiten“? Haben sie ernstzune! hmende G esprächspartner? (...)
Überall ahnt man, dass eine infantile Gesellschaft den Herausforderungen der Zukunft nicht gewachsen sein wird. Eine konsensfähige Antwort auf die Frage, wie das Verantwortungsgefühl breiter Massen gestärkt und Bildungsdefizite verringert werden könnte, gibt es noch nicht. Eine funktionsfähige Demokratie und „Wissensgesellschaft“ benötigt jedenfalls viele durchgereifte Persönlichkeiten mit Charakterbildung, die zugleich teamfähig sind.
Ich bin immer wieder angenehm berührt, wenn ich nachdenkliche Menschen kennenlerne, die von sich genauso viel erwarten wie von anderen und die ganz echt und zuverlässig sind und ihre Meinung bei der ersten Gelegenheit nicht nach dem Wind hängen. Von solchen Menschen gibt es nicht viele.
Die meisten Menschen schwimmen in jedem Trend mit und investieren viel in ihre Fassade. Meist ist die Fassade allerdings größer ist als das, was dahinter steckt.“