NWZ schreibt über die Lesung von Thomas Lehr im Rahmen der Berner Bücherwochen

Glücklich in unglücklichem Land

Bücherwochen Thomas Lehr liest aus seinem Buch „September. Fata Morgana“

Der Autor beschreibt zwei höchst unterschiedliche Kulturen. Damit beleuchtet er stellvertretend die Konflikte in Ost und West.

VON EVELYN EISCHEID

Berne „Warum schreiben Sie ohne Punkt und Komma?“ Mit dieser Frage wird der Autor Thomas Lehr am Sonnabend in der Grundschule Ganspe konfrontiert, noch bevor er zur Lesung aus seinem jüngsten Roman „September. Fata Morgana“ ansetzt. Mit einer Antwort zögert Lehr jedoch, er rät erst einmal abzuwarten: „Vielleicht hört man es, wenn man den Text im Ohr hat“.

Aber zunächst stellt Reinhard Rakow den hochkarätigen Gast der Berner Bücherwochen dem vorwiegend weiblichem Auditorium vor: „Man könnte fast sagen, Thomas Lehr hat mehr Preise für seine Literatur erhalten, als er Bücher geschrieben hat“. Lehr erhielt unter anderem den Deutschen Literaturpreis und für seinen neuen Roman den Berliner Literaturpreis 2011.

„September. Fata Morgana“ – eine Grenzwanderung zwischen zwei Kulturen, zwischen Orient und Okzident – erzählt von zwei Vätern und deren zwei Töchtern. Die Schauplätze sind jedoch weit voneinander entfernt – einmal New York im Jahr 2001, einmal Bagdad im Jahr 2004.

Der deutsche Germanistikprofessor Martin verliert seine Tochter Sabrina am 11. September 2001 beim Anschlag auf das World Trade Center in New York. Die Tochter Muna des als weltoffen und liberal geltenden Iraker Arztes Tarik stirbt in den letzten Tagen des Irakkrieges bei einem Bombenattentat in Bagdad. Dass beide Väter ihre Töchter geliebt und sie als starke Persönlichkeiten akzeptiert hatten, war keine Garantie für das Überleben der beiden jungen Frauen, die vom Leben noch alles erwarteten.

In der Figur des Vaters Tarik leuchtet Thomas Lehr die kulturhistorischen Hintergründe der irakischen Entwicklung aus. Nachdem zu Beginn der 70er Jahre in der Bevölkerung noch Hoffnung auf eine bessere Zukunft herrschte, ziehen sich Tarik, seine Frau Farida und die Kinder Muna, Jasmin und Sami im J! ahr 2004 während der Bombardierungen in ihren familiären Mikrokosmos zurück. „Flucht ist kein Thema“ lässt Lehr die Ehefrau sagen, „mit dir bin ich glücklich gewesen in einem unglücklichen Land.“

Aber der familiäre Kokon hat Risse, Normalität ist nur noch eine brüchige Hülle, in die Seelen der irakischen Menschen hat sich der Krieg längst eingefressen.

Bedrücktes Schweigen nach dem letzten Satz der Lesung, dann zögerlicher Applaus: Lehrs Bilder der Konflikte in Ost und West haben sich in die Köpfe seiner Zuhörer eingegraben – auch ohne Punkt und Komma.