Peter Missler rezensiert den neuen Gedichtband „Gezeiten“ von Thomas Bartsch

Peter Missler rezensiert den neuen Gedichtband „Gezeiten“ von Thomas Bartsch

Wieder einmal ein merkwürdiger Zufall: In einer Zeit elementarer Verunsicherung, Krisen und Notstände in nahezu allen Lebensbereichen – als befänden sich sämtliche Fehlentwicklungen der menschlichen Zivilisation in einer finalen Eskalationsphase – erscheint, von einer größeren Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, im Geest-Verlag / Vechta der Gedichtband „Gezeiten“ des Lyrikers und Psychotherapeuten Thomas Bartsch.

Während im Außen die bisher scheinbar verlässlichen Strukturen zu erodieren drohen, weist schon der Titel des Lyrikbandes darauf hin, dass es hier um Konstanten unseres Seins geht, die dem ständig überlasteten und metaphysisch weitgehend entwurzelten Zeitgenossen mehr oder weniger entgehen. Thomas Bartschs Gedichte sind eine starke Ermutigung, aus der Rastlosigkeit des Alltags und der angstmachenden Informationsflut auszusteigen, innezuhalten und aus der erst auf diese Weise möglich werdenden stillen Betrachtung den Reichtum der eigenen inneren Räume zu erfahren. Wie es Astrid Lindgren augenzwinkernd auf den Punkt bringt: „ … und dann muss man ja auch noch Zeit haben, einfach nur dazusitzen und vor sich hin zu schauen.“ („Astrid Lindgren – Ein Lebensbild“ von Margareta Strömstedt)

Sprachlich nuanciert und facettenreich schafft Bartsch eine Brücke zwischen seinem Anliegen als Lyriker und den Erkenntnisebenen der Mystiker aller spirituellen Traditionen:
Die Weite der inneren Räume ist untrennbar verbunden mit dem „einen Großen Geist“, der alles Sein enthält und entwickelt in immerwährenden dynamischen „Gezeiten“. Inhaltlich gelingt ihm diese Annäherung differenziert, niemals belehrend, immer den offenen Raum des mit dem linearen Verstand nicht Greifbaren anbietend „ … In einen zeitlos / Schwebenden / Neubeginn“.

Einige seiner Texte würzt der Autor mit einer gehörigen Portion Sarkasmus, der dann wieder für das rechte Maß an Erdung sorgt.

Dass der Geist der 68er nicht an ihm vorbeigegangen ist, zeigt Bartsch in seinen gesellschafts- und kapitalismuskritischen Texten. Während globale Großkonzerne an der volldigitalisierten Nachvollziehbarkeit in allen Bereichen des menschlichen Lebens arbeiten, entsteht der Eindruck, Kritik-, Denk- und Diskursfähigkeit sind bei der „Generation QR-Code“ weitgehend verstummt. Auch vor diesem Hintergrund, ganz im Geiste eines Peter Rühmkorf, scheint Thomas Bartsch den scharfsinnigen und kritischen Verstand in die aktuelle Zeit hinüberretten zu wollen.

Und während die Realisierung des Transhumanismus und die Vision des „Homo Deus“ nahezu unbemerkt, aber äußerst zielgerichtet voranschreiten („ … Computerstimmen / Verkünden jedoch / Das Glaubensbekenntnis / Ihrer Mission“), ist die Lyrik Thomas Bartschs ein subtiles, aber sehr eindringliches Plädoyer für die Menschlichkeit – mit ihren Selbstzweifeln, ihrem Scheitern und ihrer Zerbrechlichkeit ebenso wie mit ihrer Liebesfähigkeit und der Freiheit des Geistes („ … Doch schließlich /Gibt sich dein / Gefangenes Herz / Der Wahrheit preis / Und lernt / Vom Schwindel befreit / Zu fliegen“).

Peter Missler, Juli 2022, Celle