Reinhard Rakow - In Berlin neulich

In Berlin neulich


In Berlin neulich da schwebte der Geist
des Fortschritts um hohe Häuser.
Im Kanzleramt tagte der Ethikrat
der lobte der Forschung mutige Tat
als epochal weltenumgreifend:

Mit ihr werde möglich zum ersten Mal
Krankheit im Vorgriff zu filtern:
Kleinwuchs und Asthma bronchiale schon bald
demnächst auch die nichtschlanke Gestalt -
Neu-Deutschland braucht stets Arbeitsplätze!

Die knappen Resourcen zwängen zum Spar´n
zumal im Bereich der Gesundheit.
Es gelte Mittel zu konzentrieren
was impliziere: zu selektieren
Kostentreiber selbst durch Sterbehilfe.

Und während in einem Designerlabor
an der Frau von, sagen wir, einem Banker
die Petrischale vorübergeht
gesäubert und keimfrei wenn auch sehr spät
für zigtausend Dollar und fünfzig -


ein paar Häuser weiter im Krankenhaus
die Greisin ringt mit dem Sterben.
Der Arzt sieht zu, wie die Lösung fließt
und der Arzt bemerkt, dass es Freitag ist
und er wirft einen Blick in die Zahlen ...

Wie die Krankenschwester ihm sekundiert
streift er ihre Brust: Es wird Samstag.
Der Arzt nimmt wahr, wie die Alte noch seufzt
und dann - ja dann ... dann macht er sein Kreuz
in der Spalte “nicht zu erhaltendes Leben”.

In Berlin neulich da schwebte der Geist
Adolf Hitlers um hohe Häuser.
Beim Blick in die Fenster lächelte er
unter dem Schnäuzer: Was wollte er mehr?
Das überstieg, was zu erträumen er wagte!