Rezension zu Bertrams Spur - der neue Roman von Barbe Linke - von Heinz-Jörg Zeller

Die Häutungen des Johan Bertram
Bertrams Spur - der neue Roman von Barbe Linke (Geest-Verlag in Vechta, 2022)


Johan Bertram ist ein erfolgreicher und angesehener Berliner Architekt. Er gerät in die glückliche Lage, ein mehrmonatiges Stipendium für Mexiko zu erhalten, zunächst die Teilnahme an einem Symposium, daran anschließend an Ausgrabungen am Monte Albán – eine schon sehr lange gehegte Sehnsucht wird wahr. Monte Albán war die historische Hauptstadt der Zapoteken, ein indigenes Volk, das zur Urbevölkerung Mexikos gehört und im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca im Süden des Landes wohnt. Die Blütezeit der Stadt liegt zwischen 300 und 900 n. Chr., die Anfänge der Besiedlung stammen nach bisherigen Erkenntnissen im 8. Jahrhundert v. Chr.
Bis nach Monte Albán ist es aber ein langer Weg, den Johan Bertram zurückzulegen hat. Im Titelbild des Buches ist dieser Weg bereits angedeutet – er besteht aus zahlreichen Windungen und Häutungen, bis ihm endlich klar wird, dass…
Aufgewachsen ist Johan Bertram in der DDR, ohne Vater und mit einer vom Leben gebeutelten Mutter, die nicht mehr an die offizielle Staatsdoktrin glauben kann, ihren Sohn aber fast so behandelt wie die SED „ihre“ Bevölkerung. Der junge Johan verweigert sich der Schule, er erlebt sie als repressive Institution. Entziehen kann er sich nur dadurch, indem er versucht, auf einem evangelischen Seminar einen Schulabschluss zu erlangen. Sein einziger Freund dort flieht kurz nach dem Bau der Mauer in den Westen; Bertrams Versuch, ihm zu folgen, endet im „Gelben Elend“, dem berüchtigten Stasiknast für politische Gefangene in Bautzen, aus dem er nach langen Monaten des „Begraben-Seins“ in den Westen freigekauft wird.
Seine nächste Lebensstation New York vermag ihn nicht zu halten, es gelingt ihm nicht, seine DDR-Vergangenheit abzustreifen. Zurück in Berlin studiert er Architektur – zwar gelingt der gesellschaftliche Aufstieg, die persönlichen Defizite und Defekte aber bleiben. In dieser yyyyyen Leser überzuspringen scheint. Bertram spürt zwar ihre Notwendigkeit für ihn, aber liebt er sie auch?
Dann endlich geht der Trip nach Mexiko los. Sein eigentliches Reiseziel erreicht er zunächst gar nicht, weil ihn der Taxifahrer auf einer weit entlegenen Hazienda absetzt, wo er alleine zurückbleibt. In völliger Einsamkeit, bei bestem Essen, dessen Köchin, die „Küchenfee“, Bertram nie kennenlernt (dafür aber den Leser nicht nur einmal hungrig zurück lässt), beginnt seine Reise ins Innere, beginnt die Aufarbeitung seiner Vergangenheit, die Auseinandersetzung mit der überstrengen Mutter, die Sehnsucht nach dem fehlenden Vater.
Irgendwann gelingt es Bertram, die Hazienda zu verlassen; seine Reise geht weiter, bis er endlich an den Ausgrabungen teilnehmen kann. Er gräbt in der Vergangenheit von Monte Albán, in der Stadt, von der umfangreiche Reste von Wohn- und Kultbauten, ein Observatorium, Grabkammern mit Skulpturen und Wandmalereien erhalten sind, er gräbt aber auch in sich selbst. Hautnah und kenntnisreich, was die zapotekische und mixtekische Mythologie dieser indigenen Völker Mexikos betrifft, lässt uns Barbe Linke teilhaben an diesem Prozess, in den viele Personen, darunter die Sängerin Cara und der Dorfälteste Octavio, mit verwoben sind. Letzterer ist es schließlich, der Bertram nolens volens zu einem Segeltörn auf den Atlantik mitnimmt. Es sind die Zwiegespräche mit Octavio in der abenteuerlichen Situation auf dem Ozean, in denen Bertrams Windungen und Häutungen zu einem vorläufigen Ende kommen und ihm endlich klar wird, dass er Helle nicht nur braucht, sondern dass er sie liebt.


Heinz-Jörg Zeller