Rezension zu Nahed Al Essa - 4222 Kilometer. Geschichten und Gedichte

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Damaskus, Stadt in der Sonne. Die Stadt duftet nach Jasmin. Einkaufen kann man dort mit einem
Eimer am Seil vom Balkon aus. Wenn die Nachbarin anruft – sie ruft durch die Wand – aber ich
fühle mich nicht gut – dann steht sie gleich mit der Kaffeekanne vor der Tür und bringt mir einen
Kaffee. Das erzählt Nahed Al Essa.
Probleme gab es da auch, damals, als sie noch Schmetterling war: die Lieblingsfarbe des
Lippenstifts!
Abends, bevor ich das Licht ausmache, lese ich in ihrem Buch: 4222 Kilometer. Danach schlafe ich
gut – mit leuchtenden Bildern im Kopf. Vor allem mit der Erinnerung an die strahlende junge Frau,
der ich bei ihrer Lesung begegnet bin.¹
Sie schreibt vor allem über die Zeit, in der sie sich nicht erlaubt hat, nach hinten zu sehen – nur
nach vorne. Auf einem riesigen Meer. Ganz allein: Wie allein ich bin – in diesem Moment habe ich
das gespürt. Vielleicht war ich noch nie so allein, vielleicht war es noch nie so stark, das Gefühl, wie
in diesem Moment, in dem ich im Schlauchboot saß.
Die Frage, die sich stellt, ist ganz einfach: Wer sind unsere Helden? Die Soldaten, die Dönitz fragt:
„Ihr wollt doch nicht alle leben?“ Oder die Flüchtlinge, Mütter und Väter, die Mut haben, die
unendliche geschöpfliche Einsamkeit in Todesgefahr anzunehmen – um des Lebens ihrer Kinder
willen.
Sie hat die lebensgefährliche Überfahrt allein gemacht – um die Kinder später nachzuholen aus
dem lebensbedrohlich bombardierten Damaskus.
In einem Maisfeld sammelt sie ihre restliche Kraft.
Warten. Warten auf ihre Kinder. Ein Jahr – einen Monat – 12 Tage – 10 Stunden. Der Sohn hat die
Zeit gezählt.
Leben. Hier, wo das Wetter übertreibt: Grauer Himmel wie Baumwolle. Dunkel beim Aufstehen.
Der Körper gehorcht dem Wecker, der Kopf schläft noch – wartet, dass die Sonne den Tag
einleuchtet.
Nahed Al Essa schreibt ehrlich. Die kurzen Texte und Gedichte erzählen nicht leichtfüßig über die
Angst hinweg: Flucht und Fremde. Aber sie begegnet uns als ICH, poetisch erzählt sie, wie sie sich
selbst erlebt. Manchmal auch spöttisch, zum Beispiel schreibt sie an den „Herrn Beamten“ und
versichert ihm, dass sie sogar gegen das Schicksal versichert ist! Die Versicherung wird ihr alles
zurückzahlen! Deswegen bittet sie um Einbürgerung!
Nur mit einem ist sie wirklich böse: Mit AlAssad.
Beim Lesen lerne ich sie kennen. Ich kann ihr nichts abnehmen – ich muss ihr gar nichts abnehmen
oder erleichtern, aber verstehe das, was ich nicht ändern kann: Jede Nacht zieht sie um nach
Damaskus, jede Nacht. Mit Armbanduhr und Augentropfen für die weinende Stadt. Am Morgen ist
sie rechtzeitig wieder in Deutschland. Sie träumt, denkt und freut sich von rechts nach links – wie
die schwingende arabischen Schriftzeichen – so leicht wie Vogelfedern. Nicht so wie wir schreiben:
von links nach recht. Ich kann ihr folgen über das Meer und die große Angst vor der Nähe des
Todes ahnen – und trotzdem gut schlafen danach, weil sie Mut hat, den den eigenen Schmerz zu
benennen, ohne ihn zu verteilen. Selbstbewusst.
¹ Nahed Al Essa, 4222 Kilometer, Geestverlag 2023, ISBN 975-3-86685-1


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