Rezension zu Renate Maria Riehemann (HG.): Und dann ist das Kaninchen gestorben im 'Quickborn'

Renate Maria Riehemann (Hg.): Und dann ist das Kaninchen gestorben. Kurzweilige und tiefsinnige Geschichten und Gedichte von Harzer Autoren, Vechta: Geest 2016 (= Anthologie zum ersten Literaturpreis Harzkind), kart., 304 Seiten, ISBN 978-3-86685-577-9, 11 Euro

Die Anthologie beginnt mit der harzgemäßen Begrüßung "Glück auf!" (5) durch die Herausgeberin, die die Beiträge in sechs Kapitel eingeteilt hat. Sie lässt ihrer Begrüßung ein Gedicht Harzheimat (6) folgen. Allerdings verfolgt sie das Prinzip, dass jeweils auf einen Prosatext ein lyrischer Text folgt. Und den Kapitelüberschriften wird jeweils ein aussagekräftiges passendes buntes Harzfoto zugeordnet. Das Inhaltsverzeichnis begnügt sich allerdings mit den Kapitelbezeichnungen; die Texte, ihren Umfang, Aussage und Titel muss man beim Lesen selbst herausfinden. Im Autorenverzeichnis (275ff) erfährt man Näheres über die Autoren, die Nachnamen in alphabetischer Reihenfolge. Allerdings auch dort sucht man vergebens, für welchen Text sie verantwortlich zeichnen. Am Schluss steht die Danksagung an alle, die zum Entstehen beigetragen haben, der Initiative Harzkind und den Juroren des ausgelobten Preises (303f). Mehr als 300 Texte waren zu sichten.
Bereits vor Beginn der Lektüre erfährt man die Namen der Preisträger(innen) sowie den Titel ihres Prosa- und Lyriktextes. Ich finde diese Entscheidung ungeschickt, weil so dem Leser jede Motivation genommen wird, selber zu spekulieren, wem wohl der Prosa- oder Lyrikpreis zusteht. Vorne hätte es ausgereicht, mitzuteilen, dass
jeweils vier Preise für Prosa und Lyrik vergeben werden.
Nicht nur dem Harzfreund wird gute und anspruchsvolle Unterhaltung mit dem Buch garantiert. Vor allem dem Gelegenheitsleser spannende Texte unterschiedlcher Länge, die zum Nachdenken anregen
            Schatten vor dem Morgen enthält acht Texte:
Die Ratte schildert eine Kriegserinnerung aus der Sicht eines KZ-Häftlings; ein verbindendes Symbol, zugleich ein Hinweis auf den Unwert der Häftlinge, bildet die Ratte.
Gleichsam ein lyrisches Glaubensbekenntnis (Glaubensfrage, 19) in traditioneller Strophenform schließt sich an.
Hinter Schweigen - eine Flüchtlingsgeschichte verbergen sich die lebenslangen Folgen einer liebearmen und vaterlosen Kindheit und Jugend. Die Geschichte eines vom Leben Abgehängten, der einsam bleibt, weil er die Qual der Partnerschaft bei seinen Eltern (Vater Spätheimkehrer, Mutter Trinkerin) nie verwunden hat.
Die folgenden Texte Gegensünde, Später Bumerang, Oberstübchen, Der Grenzgänger, Damals, am Prinzenteich führen die Leser in verschiedene Harzregionen, die mit den Gefühlsregionen korrespondieren.

            Punktgestreift und rundkariert, das zweite Kapitel, enthält 14 Texte:
Eisbein und Suppenhuhn verspricht im Untertitel eine touristische Posse. Und in der Tat führt eine alte Frau den Tourismusbetrieb eines ungenannten Ortes im Harz an der Nase herum. Ihre Schlitzohrigkeit spottet jeder Beschreibung. Allein wegen dieser zwerchfellerschütternden Geschichte lohnen sich die 11 €.
Die folgenden Texte unter dem Titel Losgelöst, Trendiger Undercut, Philipp, Angegossen,  Einsatz im Tischlerschuppen, Jahrmarkt, Fisherman's Friend, Der Milchmann kommt, Der Wassermann, leise sein, Die Erschütterung, So is' es und Mit Herz, Hirn und "Pieps" erfüllen die Lesererwartung, vom Titel geweckt, nach Übertreibung, Ironie und Komik

            Das Hemd ohne Taschen enthält 13 Texte:
Wurzeln vergleicht das Beharrungsvermögen der Bäume mit übertriebener Sesshaftigkeit im Alter.
Eine lyrische Abendstimmung nimmt romantische Bilder auf (Ein Abend im Mai,131).
Wie man eine Todesnachricht erlebt (Nicht heute) spiegelt im Monolog die wohl jedem bekannte fast traumatische Situation: hilflos auf ein Ergebnis zu warten, auf das man keinen Einfluss hat.
Auch die folgenden Texte Tod eines Vaters, Frieden, Januarmorgen, Donnerstag um halb vier, Auf einer Parkbank, Entschwebt, Großstadtgeflüster, Robin Hood im Harz, kreisen um existentielle Fragen am Lebensende.

            Nothing but a poem überrascht mit 9 kürzeren Texten:
Die Texte sind neben der alltagstypischen Aktualität Schreibexperimente:
Ermunterung spielt mit Rätselmetaphern, um Liebessehnen anzudeuten (175).
Merkwürdig mutet die beinah hörige Beziehung zu einer weiblichen Rundfunkstimme (Runas Stimme) an, deren Besitzerin von diesen Gefühlen bis zum tragischen Ende des Liebhabers nichts ahnt. Superlative, Hello, goodbye, Nothing than a poem, Ein Regentropfen, Fantasie, Wenn er mich heiraten würde und Wie meine Gedanken spielen mit Rhythmus, mit expressiver Sprache und mit konsequenter Perspektiven-Übernahme. Man könnte sie fast Etüden in Sprache nennen.

            Heimathimmel ist noch denkbar bietet ein noch schmaleres Textspektrum:
Ein Akrostichon versucht sich an Harzkind unter dem Titel Harzgeborene (207).
Eine Momentaufnahme im Regen in erlebter Rede (Back to the roots).
Lyrisch in freien Rhythmen wird die Momentaufnahme mit Blickwechseln wieder aufgenommen in Gebirgswassersichtung (210f).
Heimatgefühl verherrlicht Harzgefühle: es geht um einen winzigen Harzort: Steina, der 53,4km entfernte Bezugsort, könnte überall sein.
Wieder ein snapshot-Gedicht offeriert Auf den Hahnenberg Klippen (216f).
Der Tag ist eigentlich eine Leser-Irreführung, denn es geht um Erinnerung und Wandel der Zeiten. Aber es ist der Tag der bewussten Anwesenheit, der Vergewisserung, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinander verschwimmen lässt.
Weiter geht es mit Heimathimmel, Trüber Tag, Berührung und Harzwetter. Hier lassen sich fast literarische Führungen im Sinne von Spurensuche denken/assoziieren.

            Märchenhafte Begegnungen nennt Riehemann das letzte Kapitel.
Märchenhafter Harz kleidet sich in traditionelle gereimte Strophenformen (241) und beschwört viele märchenhafte Gestalten herauf.
Das Lied der Harzer Wälder ist das Lied nach Sonne und Wind, wie es noch heute vom Brockengipfel zu vernehmen ist.
In die Walpurgis-Stimmung in Anlehnung an Goethes entsprechende Faust-Szene führt ein das kurzatmige Gedicht, das sich in ein Traumgesicht auflöst (248ff).
Wunderschön finde ich das Märchen vom Tränenumwandler Monsieur Petit und wie subtil er seine Wunder wirkt. Bezeichnenderweise fehlen für seine Schokoladenmischungen Rezepte; seine Empathie wandelt Emotion in Schokolade.
Harz-Reise plus... erfindet Reisen in Limerick-Manier - frei nach Edward Lear - mit einem abgewandelten Lügenbaron Mönchhausen (257f).
Zwei Harzer Kirschblütensterne, Näher am Himmel, Nicht bewegen, Alte Hexenkunst, Dämmerung am Ravensberg, Winter im Harz und Harz aus Eis betrachten den Harz aus je anderer Perspektive und laden durch ihr Werkstatt-Stadium zur Nachahmung ein.
Allen Harzliebhabern ist ein immer wiederkehrendes Eintauchen in die besondere Atmosphäre dieser wundervollen und geschichtsträchtigen Landschaft gewährleistet. Auch als Geschenk für Menschen, die sich einen Roman nicht zutrauen und das Buch als Bettlektüre vor dem Einschlafen betrachten, ist der Band bestens geeignet. Und schließlich: Man bekommt viel Lesestoff für vergleichsweise geringen Preis.