Salim Dagustany - Hoffnung (auch eine Weihnachtsgeschichte)

Salim Dagustany
Hoffnung

Meine Schwester zündete die Kerze an. Das Licht schenkte uns den Schein von Wärme in der kleinen Wohnung. Wir unterhielten uns eine Weile über die alten Zeiten, lachten. Schließlich sagte sie, es sei Zeit zu schlafen, und pustete das Licht aus. Ich schloss zwar die Augen, aber der Schlaf wollte nicht kommen. Es war zu laut. Die ganze Nacht tanzten Vögel krachend über uns. Immer, wenn ich dachte, nun wäre Ruhe, kam noch einer. Als die Sonne aufging, schaute ich als Erstes aus dem kleinen verstaubten Fenster auf die Stadt und hoffte, dass die Vögel nicht in einem Haus der Nachbarschaft gelandet waren. Heute hatten wir Glück gehabt.
Wie immer war meine Schwester Amal vor mir wach. Sie ging zum Markt und kaufte uns Schafskäse, den wir zum Frühstück mit Gurken aßen. Danach setzte Amal sich an das kleine Schminktischchen mit dem Spiegel von Mama. Er war zerbrochen an der Last der Trümmer, aus denen Amal ihn damals gezogen hatte. Wir wussten beide, dass sie genauso gut die abblätternde Tapete hätte anstarren können, aber darüber verlor keiner von uns ein Wort. Dieser Spiegel war unser einziger Beweis für eine vergangene Zeit. Eine naive Zeit, in der wir Vögel in prächtigen Federkleidern bewunderten, anstatt ihre Rivalen aus Metall zu fürchten.
In einem kurzen roten Kleid mit rosigen Wangen und tiefschwarzer Wimperntusche verabschiedete sie sich schließlich. Sie lächelte und sagte mir, ich könne doch Fußball spielen gehen. Jeden Tag trafen wir uns früh, bevor die Sonne zu weit oben stand, und spiel-ten zusammen. Heute machte Lutfi wieder Ärger. Immer, wenn sein Team verlor, schoss er den Ball in den Fluss, und einer von uns musste ihn schnell holen, bevor der Strom ihn wegtrug. Dann redeten wir so lange nicht mit ihm, bis er uns zur Entschädigung frische Wassermelonen vom Stand seines Vaters brachte. Wir tauchten sie ins kalte Wasser und köpften sie am Rande des Spielfelds. Das saftige Rot besiegelte jeden Streit. Lutfi stand auf, während wir aßen, und hielt einen seiner Vorträge: „Ihr werdet schon sehen. Ich werde Real Madrids Nummer 7 tragen, und wenn Lutfi das Bernabéu betritt, werden alle aufstehen und jubeln. Wenn ihr ein Autogramm haben wollt, dann beeilt euch lieber!“ Wir lachten alle, und Lutfi grinste stolz. Er war der Einzige, der seinen Worten wirklich Glauben schenkte. „Mein Vater wird nie mehr Melonen verkaufen müssen.“
Mit der Abenddämmerung lief ich zurück zu unserem Wohnhaus. Wir lebten im vierten Stock, und die Treppenstufen wollten nicht enden. Dabei stand mehr als die Hälfte des Hauses frei. Die ehemaligen Mieter waren entweder geflüchtet oder Opfer der Krachvö-gel geworden. Als ich in unsere Wohnung ging, zog Amal sich gerade um. Ich sah sie erschrocken an. „Du hast schon wieder blaue Flecken.“
Sie sah stur auf den Spiegel. „Ich bin eben tollpatschig, Bruderherz. Du weißt doch, wie oft ich über die Steine auf der Straße stolpere.“
Ich betrachtete sie prüfend und fragte: „Warum ist deine Schminke so verschmiert? Und dein Kleid hat ja einen Riss!“
Da erntete ich einen bösen Blick. Amal schnaubte. „Du bist bestimmt müde vom Spielen. Leg dich lieber hin, bis ich etwas zu Essen gemacht habe.“
An diesem Abend sprach sie kein Wort mehr mit mir. Irgendwann versank ich in Träu-mereien – vielleicht könnte ich ja auch für Real Madrid spielen – und schlief ein. Doch diese Nacht wollte früh enden. Vor dem Morgengebet schrak ich hoch: Es krachte, der Boden zitterte, und plötzlich stand die Luft still. Wir rannten zum Fenster und sahen die große Rauchwolke zwei Straßen weiter. Es dauerte nicht lange, da kletterte der Muezzin auf das Minarett unserer Bezirksmoschee. Er verkündete den Tod der Familie von Lutfi. Die Glocken der Kirche stimmten in die Trauer ein, und die Engel freuten sich. Ich war zu traurig, um zu weinen.
Amal starrte mich kurz an, rannte aus der Wohnung und kam kurz darauf wieder zurück. Sie hob ihre Matratze hoch und zog einen Briefumschlag hervor. Dann packte sie mich am Arm und zog mich die Treppe hoch. „Was ist denn los?“, fragte ich aufgeregt. Schließlich blieben wir vor der Tür von Naji stehen, einem alten Griesgram, der ein Stockwerk über uns wohnte. Amal klopfte und er öffnete die Tür auf seine langsame Art. Ich hielt es schon immer für bemerkenswert, dass ein Mann von diesem Gewicht wie ein Geist umherschleichen konnte. Manchmal war er tagelang nicht da, doch dann kehrte er zurück. Oft sprach er am Telefon, manchmal war er sauer. Hin und wieder kehrte er mit Kindern heim und hielt sie mit der Hand am Arm. Sie waren gespenstisch gefügig. Auch meine Schwester sprach an manchen Tagen mit ihm, und heute war solch ein Tag. Doch mich hatte sie noch nie zuvor mitgenommen. Amal reichte ihm den Brief-umschlag. Naji nahm den Umschlag mit einem Grinsen und sah mich aus dem Augenwinkel an. „Nördlich vom Hafen am Strand findest du ein Boot. Mustafa wird euch mit-nehmen, wenn du meinen Namen nennst“, sagte er. Dann fügte er seufzend hinzu: „Bloß schade um meine Kunden. Sie werden dich vermissen, Mädchen.“
Amal drehte sich auf der Stelle um und rannte mit mir die Treppe hinunter. „Was ist los?“, fragte ich abermals.
Meine Schwester blieb stehen, als wir auf der Straße angekommen waren. Sie sah mich mit großen Augen an. „Wir gehen. Nach Europa. Dort leben die Menschen in Frieden und Wohlstand, und Menschen wie Naji kommen ins Gefängnis, weil sie alles Böse tun, was man sich vorstellen kann.“
Bevor ich antworten konnte, stand sie wieder auf und zog mich eilig durch die Straßen in Richtung Küste. Amals Hände waren eiskalt, obwohl die Sonne kräftig strahlte. In der Ferne krachten Vögel. Nach einer halben Stunde waren wir am vereinbarten Treffpunkt, nicht allzu weit vom Hafen entfernt. Ein Boot wartete dort. Einige Dutzend Menschen saßen dort schon und warteten. Ihre Gesichter jammerten in der Sprache der Angst. Amal flüsterte mit einem kleinen Mann, der hier der Anführer zu sein schien, und er half uns ins Boot. Es war der Mustafa, von dem Naji gesprochen hatte.
Das Boot wackelte mit jedem neuen Gast, der es vorsichtig betrat. Manche Passagiere breiteten Decken aus, andere kauerten sich auf dem Boden zusammen. Es dauerte nicht lange, da legte Mustafa den Anker ab. Das Boot schwankte mit einem Stottern ins Meer. Je kleiner die Küste und je größer das Meer um uns herum wurde, desto leiser wurden die krachenden Vögel. Stattdessen sangen und kreischten nun Amseln und Möwen. Diese Vögel mochte ich mehr. Zeit verstrich, und ich konnte Stunden und Minuten nicht mehr voneinander trennen. Mein Magen knurrte und mein Mund war trocken.
„Bald sind wir da. Nicht mehr lange“, sagte Amal. Sie klang jedoch, als ob sie sich selbst davon zu überzeugen versuchte. Manche der Erwachsenen standen beim Steuermann und sprachen auf ernste Art und Weise, wie es die Erwachsenen zu tun pflegen. Ich ver-stand nicht ihre Worte, aber ihre Laune. Über uns allen lag ein Schleier, und was hinter ihm lag, brauchte nicht ausgesprochen zu werden. Er bedeckte Augen, Ohren und Mund, und wir sahen wie Blinde und hörten wie Taube. Je später es wurde, desto gnadenloser peitschte der salzige Wind über unser Boot. Die Wellen wurden höher, und das Boot schwappte zwischen ihnen hin und her wie eine Pendelschaukel. Der Steuermann versicherte, dass wir vorankommen würden, wenn es auch etwas länger dauern könnte als eingeplant. Ich erzählte Amal, dass ich bald ein großer Fußballer sein würde und ihr eine große Wohnung kaufen würde, in der den ganzen Tag Strom laufe. Wir würden nie mehr Kerzen brauchen. Sie lachte und umarmte mich. Und dann summte sie ein Lied von Fairouz.
Die Nacht kam und die Windböen warfen einen fast um. Wasser züngelte aus dem Meer nach dem Boot und schien uns küssen zu wollen. Der Himmel grollte und donnerte. Ein Blitz prophezeite Regen, der nicht lange auf sich warten ließ. Wir hatten Decken, aber auch die trieften bald vor Nässe. Körper zitterten und die Kopfhaut fühlte sich ganz starr und eng an. So starrten wir mit gesenktem Kopf auf den Boden des Schlauchbootes. Ich zählte die Tropfen, die auf dem Holz ihre Wege liefen, bis sie durch einen kleinen Wink des Meeres fortgespült wurden. Die Erwachsenen sprachen nun noch viel geschäftiger. Ihre Stimmen waren heiser und der Atem kam hastig und schwer. Amal stellte sich zu ihnen und lauschte den Gesprächen. Aber es sei nichts, versicherte sie mir. Also zählte ich einfach weiter Tropfen. Irgendwann schlief ich ein. Im Traum malte ich mir bunt ein neues Leben aus. Wie es in Europa wohl sein würde? Ich dachte an das Schloss Versailles. Davon hatte mir vor zwei Jahren mein Vater erzählt, aber an viel erinnerte ich mich nicht. Wenn er bloß sehen könnte, dass wir bald auch in so einem Schloss leben würden!
Schreie weckten mich. Ich schreckte auf und sah um mich. Zwei Männer zogen einen dritten älteren ins Boot. Er war wohl ins endlose Blau gefallen, und sie hatten ihn wieder herausgefischt. Es regnete nicht mehr, es schüttete. Auf dem Holzboden liefen keine Tropfen mehr. Ein See hatte sie geschluckt. Ich klammerte mich an Amal. Durch den Dunst sah ich die anderen Passagiere bloß schemenhaft. Sie tanzten im Takt der Wellen und sie riefen und sie schrien. Immer wieder verlor jemand den Takt und dann fiel er flach auf den Boden. Knochen knackten und Wasser spritzte. Meine Augen füllten sich mit Tränen. Was hätte ich für einen Abend in unserer Wohnung nur gegeben in der Trockenheit und Geborgenheit der Kerzen. Selbst den Krachvögeln hätte ich dankbar ge-lauscht. Wir rutschten hin und her. Es gab keinen festen Halt mehr. Männer und Frauen schrien, und dann wurde ihr Schrei erstickt. Das wütende Boot leerte seine Menschen aus. Wasser, überall Wasser, aus dem Himmel und so weit das Auge reichte. Es umarmte uns, es umschlang uns, es fesselte uns. Ich schrie, und alle stimmten mit ein.