Sigune Schnabel - Baumkönig
Baumkönig
Sie fragen mich, wie es mir geht. Ich weiß, wie ich antworten muss, habe gelernt, aus ihren Sätzen das notwendige Verhalten abzulesen. Sonst rufen sie Frau Lehmberg an, und Frau Lehmberg ist keine Person, der du begegnen willst.
Einmal hatte ich mich nicht daran gehalten. Ich hatte ihnen gesagt, dass ich zum Baum geworden bin. Zur Hälfte nur, soviel sei schon verraten, aber das spielt keine Rolle. Ob nun ganz oder nicht: Sie behandeln mich, als wäre ich verrückt.
Es hat an einem Sonntag begonnen. Meine Haut war rissig. Nicht ungewöhnlich bei dem Wetter. Durch solche feinen Zwischenräume können Mutters Worte besser eindringen. Das sei nur am Rande erwähnt. Die Abwehrkräfte verschwinden manchmal mit dem Sommerregen.
Ich hatte es satt, wollte selbst bestimmen, was mir unter die Haut geht. Also beschloss ich, das Menschendasein aufzugeben. Rinde bringt nicht nur einen Vorteil mit sich. Sie hat etwas Beruhigendes an sich, und ihre Dicke macht mir weniger Angst. Jedenfalls wenn der Baum ein gewisses Alter erreicht hat.
„Angst“ ist so ein Wort, das du Frau Lehmberg gegenüber nicht erwähnen darfst.
Ich suchte mir unsere Eiche aus. Sie hat sicher schon ihre hundert Jahre auf dem Buckel. Oder fünfzig. Jedenfalls mehr als ich. Was den Buckel betrifft: Ich muss zugeben, so richtig krumm wirkt sie nicht. Aber wozu auch? Die Eiche ist doch keine Hexe.
Ich lehnte mich also an die Baumhaut. Dort musste ich eine Weile bleiben. In den Märchen geht das schneller, aber ich lebe in der echten Welt. Auch wenn ich mir gerne Märchen ausdenke. „Du und deine Hirngespinste“, sagt Mutter manchmal.
Anfangs lief alles gut, und niemand fragte mich, was ich vorhatte. Die Erwachsenen ließen mich in Ruhe.
Manchmal spüren die Gesprächsthemen, dass sie unerwünscht sind, und sie gleiten einfach wieder von den Lippen. Große Leute merken das nicht, glaube ich, aber ich habe das schon erlebt. Sogar mehrfach.
Unter dem Baum war es ruhig. Noch nicht einmal die Blätter hörte ich rascheln. Aber Mutter gefällt es nicht, wenn ich zu lang alleine spiele. „Du brauchst andere Kinder um dich“, sagt sie immer.
An ihrem Gesicht erkannte ich, dass mir nur noch wenig Zeit blieb. Die Stirn bekam eine große Falte, und der Blick veränderte sich, wenn er zu mir herüberglitt.
Ich drückte mich fester an den Stamm, damit der Baum besser in mich hineinwachsen konnte. Am Rücken spürte ich etwas. Jetzt musste ich stillhalten. Rinde braucht Ruhe, um zu wachsen.
Ich wusste nicht mehr, welche Haut mich umschloss, ob sie der Eiche gehörte oder mir. Eine Fliege setzte sich auf meine Schulter, kroch nach hinten, bewegte die Zunge. Ich sollte mal in die Bibliothek gehen und nachschauen, ob sich Fliegen von Holz ernähren. Schmeckt besser als Schweiß oder Hautschuppen.
Kurz darauf habe ich etwas Falsches gesagt. „Wie meinst du das?“, fragte mich Mutter und schaute auf einmal so besorgt. Ich hatte nicht gemerkt, dass Sprache in meinem Mund war. Meist sitzt sie so weit hinten, dass sie mich nicht nach außen übersetzt. Nach außen zu übersetzen, ist gefährlich.
„Das ist ein schöner Baum, wollte ich sagen.“
„Das ist mir noch gar nicht aufgefallen.“
Warum die Eiche stehengelassen wurde, als unser Haus gebaut wurde, weiß ich nicht. Normalerweise werden solche Bäume gefällt, um Platz für den Garten zu schaffen.
Gut, noch einmal Glück gehabt. Mutter ging wieder zur Wäscheleine.
Als es Abendbrot gab, musste ich aufstehen. Sonst wäre die Sache aufgeflogen. Ich zog mir das T-Shirt über und ging ins Haus. Vorher tastete ich meinen Rücken ab, um den Fortschritt zu begutachten. Die Rinde hatte angefangen, an mir zu wachsen.
Frau Lehmberg fragt: „Was ist gestern passiert?“
„Das hat Ihnen meine Mutter doch schon erzählt“, sage ich. Ich hüte mich davor, den Baum zu erwähnen, sonst wechselt Frau Lehmberg die Stimme, als würde sie mit einem Kleinkind sprechen. In ihrem Mund sind die Wörter spitz und einzeln, wenn sie so mit mir redet. Das gefällt mir nicht. Sie werden auf einmal alle gleich, als hätten sie sich abgesprochen. Ich weiß aber, dass sie nur verkleidet sind. Die Wörter.
„Ich möchte hören, wie es für dich war“, sagt sie.
„Ich habe unter der Eiche gespielt.“
„Was ist das für ein Spiel?“
„Baum werden.“
Jetzt hatte ich es gesagt. Es war mir einfach herausge-rutscht. Frau Lehmberg hat so eine Art, Sätze zu fan-gen. Obwohl sie noch gar nicht da sind.
Ich bin ein Baum. Frau Lehmberg weiß es. Alle anderen wissen es auch.
Ich habe Mutter gefragt, ob sie die Eiche fällen will. Zum Glück hat sie verneint.