Sigune Schnabel - Der Weg in die Abstellkammer

Der Weg in die Abstellkammer

Ich weiß, dass sie mich in die Abstellkammer bringen. Das erkenne ich an der Art, wie sie reden. Wenn sie etwas im Schilde führen, werden die Laute zwischen ihnen ganz karg.

Gestern zum Beispiel war so ein Moment. Frau Leisig hatte mich früh geweckt, mir die Kleidung zurechtgelegt und gesagt, ich müsse mich beeilen. 
Unter meinem Bett habe ich ein Kästchen versteckt. Ich komme nur mit dem Spazierstock heran, aber das macht nichts. Nun allerdings musste ich das Kästchen mitnehmen, denn sie wollten mich mit dem Rollstuhl wegfahren. Meistens bringen sie mich nur zum Essen. Dieses Mal führte mich Frau Leisig an der Nase herum. Das kam von Zeit zu Zeit vor, auf die ein oder andere Art. Ich sah es an ihrem Blick und ich spürte, wie von ihrer Stimme alles abfiel und nur ein Faden blieb, an dem die Wörter baumelten, einzeln und dürr. Jetzt durften sie bloß nicht davonflattern. In solchen Momenten lauert Gefahr. 

Die Nacht war frostig gewesen. Ich möchte im Winter sterben, habe ich einmal gesagt. Der Schnee erinnert mich an Asche, und ich werde nichts anderes sein. Frau Leisig hat die Nase gerümpft und die Stirn in Falten gelegt, als ich zum ersten Mal davon sprach. Ich glaube, sie versteht mich nicht. Keiner hier versteht mich. 

Mir gelingt es, das Kästchen unter meinem Schlafanzug zu verstecken, bevor sie mich holen. Warum sie mich ausgerechnet in die Abstellkammer räumen, an diesen engen und dunklen Ort, weiß ich nicht. So etwas ist mir noch nie passiert. 
Sie sagen, ich kann mir nicht mehr viel merken und ich verstehe ihre Worte oft falsch, aber das stimmt nicht. Ich liege zwar meistens im Bett, über Stunden, aber ich habe viel Zeit, ihre Sätze in meinem Kopf herumzuwälzen und von jeder Seite zu betrachten, genau zu prüfen, ob sie Dellen haben; denn dann bleiben sie stehen, rollen nicht durch mich hindurch, von einer Schädelwand zur anderen. Das ist ein phy-sikalisches Gesetz. Frau Leisig kennt sich mit so etwas nicht aus, ich aber weiß, wie es um die Dinge steht. Mit meinen achtzig Jahren habe ich schon viel gesehen und gelernt. Verbeulte Sätze verweilen lange in meinem Kopf. In letzter Zeit sind die Worte der Pfleger gar nicht rund. Etwas Gutes hat die Sa-che: Es steigert meine Merkfähigkeit. 

In das Zimmer, in dem ich liege, kommen selten Menschen herein. Sie denken, dass ich keine Gespräche mehr führen kann. Wenn sie doch einmal vorbeischauen, schreien sie die Sätze in meine Haut hinein, so nah gehen sie an mich heran. Welches Datum haben wir heute? Wie alt sind Sie?, fragen, nein, brüllen sie, aber das geht sie nichts an. 

Frau Leisig klopft an der Tür. Jetzt gehen wir los, sagt sie. Das ist gut, denn ich bin vorbereitet. Das Fenster steht gekippt. Draußen ist es kalt.
Bald habe ich keine Fenster mehr.