Spiegelstufen - Paulus Götting

Spiegelstufen
Paulus Götting

Sachte und langsam führt die Treppe ins Wasser, die Stufen sind niedrig und breit, angenehm zu gehen. Eine letzte kleine Annehmlichkeit dieser Welt, bevor sie nach all den Qualen endlich ruhen dürfen. Leise plätschert das Wasser gegen den Stein, erst hört es sich friedlich an, doch wenn man es kennt, scheint es eine Geschichte erzählen zu wollen. Es klingt eindringlich, mal von rechts, mal von links, mal direkt vor dir. Ab und zu schafft es eine Welle über die dritte Stufe, um ihr Anliegen vorzutragen. So bleibt das Wasser nun anklagend in einer der zahlreichen Unebenheiten auf der dritten Stufe liegen, noch wirft es Bläschen ...
„Warum hast du das zugelassen? Warum hast du nichts getan?“, scheint es zu fragen. „Ich war noch nicht gebo-ren, ich konnte nichts dagegen tun und kann nichts dafür!“, versuche ich mich zu verteidigen, ich bin nicht si-cher, ob es mich meint ...
Dann beginnt es zu erzählen, von Unschuldigen und solchen, die einmal unschuldig waren, von Menschen, die es unter Tränen tröstend umarmen musste, weil es sonst niemanden für sie gab, auf ihrem letzten irdischen Weg, und von Menschen, die es am liebsten in tosen-dem Sturm verschlungen hätte, hätte es gekonnt ...
Nur noch selten schwappt jetzt etwas auf die dritte Stufe, hin und wieder, um zu fragen: „Ist denn nun heute alles gut?“ Diesmal bin ich sicher, dass ich gemeint bin ...
Der See endet und hört auf, gegen den Stein zu plät-schern, es ist ganz ruhig. Ich betrachte die unter das Wasser führenden Stufen, die nun klar und deutlich vor mir liegen, jetzt, da es nichts mehr zu sagen gibt. Sie scheinen in die Tiefen zu führen, während die Oberfläche mir gleichzeitig einen Spiegel vorhält, vielleicht sind sie auch nichts weiter als das, ein Spiegel. In der eingetrete-nen Stille versucht mein Bewusstsein zu verarbeiten, um ebenfalls zu reflektieren ...
Nur ab und zu platscht in der Ferne noch ein Fisch, wie um meine Gedanken vor der vermeintlichen Unschuld des Unbeteiligten zu warnen. Mein Rücken schmerzt, aber ich traue mich nicht, mich zurückzulehnen. Noch einmal die Stille auf mich wirken lassen, bevor ich mich erhebe. Ein letzter Blick gilt den Stufen ...