Stadtteilzeitung Schöneberg berichtet über Dieter Wöhrle

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Ein Barde dichtet aus Kiez und Küche

Lyrik, Dichtung, Poesie. Egal wie benannt, irgendwann wird (fast) jede/r Schüler/in sich mit Homer, Shakespeare, Schiller und Heine auseinandersetzen müssen. Die meisten Jugendlichen haben jedoch ihren ersten Kontakt mit Gedichten in Form von Rock- und Raptexten oder Schulhofreimen.


Dieter Wöhrle in seiner Küche in Friedenau. Foto: Thomas Protz

Nichts gegen Musiktexte und Knittelverse – oder Schüler und Schulhöfe –, denn der Wahl-Friedenauer Dieter Wöhrle ist Schullehrer und Poet zugleich. Der gebürtige Stuttgarter, Jahrgang 1955, unterrichtet seit 1986 Germanistik und Anglistik an der Berliner John-F-Kennedy-Schule. Selbstverständlich ist Poesie Bestandteil seines Unterrichts; sein Hobby darf sich im Berufsleben gern einmischen (und umgekehrt – er wirkt auch bei Lesungen von Jugendlichen, wie am 27.11.2010 im Berliner Restaurant 'Honigmond', mit).

Als Poet behandelt Wöhrle aktuelle Themen, die in alten Versfüßen verarbeitet werden. Er findet Inspiration bei den deutschen Dichtern Joachim Ringelnatz und Theodor Fontane. Inhalte entdeckt er in seiner Küche oder in den Berliner Kiezen – Wöhrle ist leidenschaftlicher Hobby-Koch, zudem ist er ein scharfer Menschen-, Milieu- und Merkmalbeobachter. Seine Gedichte tragen Namen wie „Klage einer angebrannten Tiefkühlpizza“ (ein Sextett) und „Eine Kreuzberger Seitenstraße spricht“ (Quartett). Das erste erzählt von den „Gefühlen“ einer Pizza, die menschliche – gar weibliche – Attribute aufweist.

Mein angekohltes Hinterteil
sieht nur, wer anhebt mich und steil
von unten auf mich schaut; jedoch
mein Duft in jedem Nasenloch
verrät auch so den Zustand mein:
Bin angebrannt, ganz von allein. (…)

(…) Man nannte mich die Kühle Miss,
verhüllt und kalt, war lecker bis
er vor der Glotze eingepennt.
Nach gar zu langer Garzeit
brennt mir nun das Fell. Hab Durst.
Er wirft mich in den Müll. Frisst Wurst.

Modernere Interpretationen eines „Heinrich-Zille-Milljöhs“ nehmen auch in seiner Reimkunst Platz ein:

Wie´s mir geht? Was soll ich sagen:
Bin Kulisse Tag und Nacht.
Meine Pflastersteine tragen
alles, was man auf mir macht. (…)

(..) Häuser, graubraun und erbärmlich,
nebenan Penthouses, cool,
dicht an dicht viel Geld und ärmlich,
Talk aus Izmir, Zagreb, Suhl.

Die Ballade Aus den Memoiren einer Durchgangsstraße, mit fünfzeiligen Stanzen, beschreibt die Höhen und Tiefen der alten Bundesstraße 1, die auch durch Steglitz und Schöneberg unter den Namen Schloßstraße, Rheinstraße, Hauptstraße und Potsdamer Straße verläuft. Erzählt wird von einem einstigen Pracht- und Paradeboulevard, der sich jetzt mit seinem abschnittsweisen Niedergang abfinden muss:

(…) Aber dann, wie überall
Schnäppchenshops und Billigläden
luden ein zum Flatrate-Ball,
brachten andere zu Fall
und für meinen Ruf nur Schäden.

Selbstverständlich sollten gute Gedichte öffentlich vorgelesen werden. Gemeint sind keine „Schulspeisungen“, sondern mehrgängige Festmahle – mit dem Dichter als Wirt, Koch, Kellner und, natürlich, Stimmungsmacher. Eine Gegenleistung wird erwartet: die/der „Speisende“ muss Neugierde, Appetit und manchmal Langmut mitbringen, um Speisenfolge und Festlichkeit richtig genießen zu können. Wie zuletzt im Nachbarschaftstreff GeWoHin in der Schöneberger Siedlung Lindenhof am 12. Oktober 2010: Bei der Gedichtverkostung servierte Wöhrle seine Werke so, dass alle Akzente und Noten zur Geltung kamen. So musste der zuhörende Gast nur goutieren und genießen.

Bei jener Vorlesung bediente Dieter Wöhrle die Stimmen, die er im Kiez eingefangen hat. Beispiels-weise im Dolce Vita in Moabit: Eine Oktave beschreibt den Urberliner aus dem Arbeitermilieu, der aus Jux eine neue Trattoria der Nobelklasse besucht. Wöhrle imitiert die aufeinanderprallenden Akzente von Gast und Kellner trefflich.

Essen spielt auch in dem neunsilbigen Quintilla Ayurveda für Kartoffeln die Hauptrolle, in dem Wöhrle auf den New-Age-Genuss (und die –Erotik!) einer herkömmlichen Gemüsesorte eingeht. In seinem Vortrag setzte Wöhrle eine schnurrende Stimme ein, um das Wellness-Programm (und das daraus resultierende Sex-Appeal) seiner Sieglinde-Kartoffel zu schildern.

Dieter Wöhrles Gedichtband „Aus Küche und Kiez-Balladen und Geschmacksverstärker“ kostet 10,- Euro, ist über die Website www.geest-verlag.de zu bestellen. Auf seiner Website, dieterwoehrle.jimdo.com, können auch aktuellere Gedichte von ihm gesichtet werden. Zurzeit arbeitet der Lyriker an einem zweiten Band; neue Vorlesungen sind ab dem Erscheinen des Werks geplant. Termine werden wir in unserem Veranstaltungskalender bekanntgeben.

T. W. Donohoe