Susanne Brandt - Verschiedene Füße

Susanne Brandt
Verschiedene Füße

Jala wohnt in einer Stadt, da sieht es aus wie in vielen anderen Städten: An den Straßen stehen kleine und große Häuser. Wenn es abends dunkel wird, gehen hinter den Fenstern die Lichter an. Und morgens sind die Busse voll mit Menschen, die zur Arbeit fahren. Oder in die Schule. Oder in den Kindergarten.
Eine Sache aber ist in dieser Stadt anders als in anderen Städten. Es gibt hier eine Straße, da hängen alte Schuhe wie Wäschestücke über den Köpfen der Menschen. Von einer Straßenseite zur anderen sind zwischen den Häusern Leinen gespannt. Die Leinen sind stark wie dicke Seile. Denn sie müssen eine große Menge Schuhe halten können.
Genau in dieser sonderbaren Straße ist Jala zu Hause. Seit fast vier Jahren schon. Die Stufen vor der Eingangstür sind ihr Lieblingsplatz. Im Sommer sitzt sie fast jeden Tag dort und schaut nach oben. Manchmal schließt sie die Augen und lauscht in die Luft. Denn die Schuhe, die dort oben hängen, erzählen Geschichten.
Hört mal: Die roten Sandalen mit den hohen Absätzen zum Beispiel, die erzählen von einem großen fröhlichen Fest. Wunderbar tanzen konnte die Frau, die diese Sandalen an ihren Füßen hatte. Und sie war sehr glücklich dabei.
Tippe-tipp, tippe-tipp – Jala stellt sich vor, wie es wäre, solche festlichen Sandalen an den Füßen zu tragen. Mit ih-ren Fußspitzen tippelt sie auf den Stufen hin und her. Und in ihrem Kopf klingen dazu die Töne einer wunderbaren Musik.
Gleich neben den roten Sandalen hängt ein anderes Paar Schuhe an der Leine, genauer gesagt: Pantoffeln. Die waren mal weiß, sind jetzt aber ziemlich schmutzig und hinten schon etwas kaputt. Jala findet, dass diese Schuhe ziemlich müde aussehen. Vielleicht haben sie einen sehr langen Weg hinter sich. Sie erzählen davon, wie im Herbst der Regen in den Pantoffeln quietscht. Die Füße werden ganz kalt davon.
Grrrrr-wsch, grrrr-wsch – Jala wischt mit ihren warmen Sommerfüßen über die rauen Steine. So, als hätte sie keine Lust und keine Kraft mehr, die Füße mit jedem Schritt vom Boden abzuheben. Sie kennt das: Kalte Füße auf langen Wegen klingen mutlos und traurig.
Hinter den kaputten Pantoffeln hätte Jala fast ein anderes Paar Schuhe übersehen: Eher klein und etwas versteckt hängen dort an der Leine zwei bunte Turnschuhe. Auch schon ziemlich alt und ausgelatscht. Doch die neongrünen Schnürbänder, die leuchten noch.
Jala schaut auf ihre eigenen Füße. Die könnten da gut hineinpassen.
Wie echte Turboturnschuhe sehen die bunten Dinger da oben aus, findet Jala. Sie mag dieses Wort: Turboturnschu-he! Ein Junge aus ihrer Klasse nennt seine Lieblingsturn-schuhe so. Weil er damit wie ein Wirbelwind umherspringen kann. Witzige Wörter wie „Turboturnschuhe“ merkt sie sich sofort.
Jala hat festgestellt, dass es in der deutschen Sprache von seltsamen Wörtern nur so wimmelt. Noch immer lernt sie jeden Tag neue dazu. Auch langweilige Wörter. Aber „Turbo-turnschuhe“ – das ist kein langweiliges Wort.
Hopp und hui und hopp und hui … – so lässt Jala nun auch ihre nackten Füße mit schnellen Bewegungen in die Luft fliegen. Lustige Turbofüße, denkt sie und lacht.
Nun hat Jala keine Lust mehr, länger auf den Stufen vor der Tür sitzen zu bleiben. Hüpfen und springen will sie, nicht nur mit den Füßen, sondern mit Armen und Beinen, mit Bauch und Popo.
Beim Aufstehen schaut sie noch einmal hoch zu den Schuhen an der Leine. Und dann hinunter auf ihre Füße: Jalas Füße! Die sind stark. Die kennen sich aus mit langen Wegen. Mit den Füßen kommt sie turboschnell bis ans Ende der Straße. Zum Spielplatz!
Balancieren und klettern auf den Geräten, Seilen und Balken – das kann Jala mit ihren Füßen nämlich auch. Und bestimmt warten dort ihre Freundinnen und Freunde schon auf sie.
Denn gemeinsam Kunststücke ausprobieren, Zirkus spielen und Geschichten erfinden – dazu braucht man ganz verschiedene Füße: kleine und große, flinke und langsame, übermütige und vorsichtige, schwarze und weiße, tanzende und schlafende Füße.
Das geht nur miteinander richtig gut.