Thomas Bartsch, „Sisyphos oder die Kunst der Wende“ (Geest-Verlag 2023) (eine Rezension von Prof. Dr. med. Jens Wiltfang)
Wenn im universitären Kontext - wo der Rezensent sonst zu Hause ist - vorgetragen wird, ist es guter akademischer Codex, zuerst eigene Interessenkonflikte offenzulegen. Tatsächlich sind hier solche zu benennen: Am ersten Tag des Medizinstudiums in Hannover saßen Thomas Bartsch und ich in der Begrüßungsvorlesung nebeneinander und sind seither befreundet. Bereits damals wurde deutlich, was für den vorliegenden Essay hohe Relevanz hat: Thomas Bartsch hat sich schon früh intensiv mit geisteswissenschaftlich-philosophischen Fragestellungen beschäftigt, die auch dazu beigetragen haben, dass er seinen professionellen Weg über eine Facharztausbildung für Psychotherapeutische Medizin in die langjährige Tätigkeit als niedergelassener tiefenpsychologisch orientierter Psychotherapeut wählte. Noch ein weiterer wichtiger Baustein ist zu benennen, der die literarische Gestalt seines ersten Essays „Sisyphos oder Die Kunst der Wende“ nachhaltig prägt: Eigentlich ist Thomas Bartsch Lyriker. Zuvor sind zwei Gedichtbände im Geest-Verlag erschienen: „Von Übergang zu Übergang“ (2021) und „Gezeiten“ (2022.) . Seine Wortgestalten und Sprachbilder modellieren präzise und mit melodischer Ästhetik, was gesagt werden soll. Warum ist diese hohe Sprachkunst so relevant für das vorliegende Werk? Der philosphisch-psychoanalytische Essay ist intellektuell keine „einfache Kost“: Um die innovative Interpretation der Sisyphos-Metapher von Thomas Bartsch nachvollziehen zu können, d.h. zu verstehen, worin in der scheinbar erbarmungslosen Ausweglosigkeit des in den Hades verbannten Königs von Korinth die Chance und Kunst einer Wende besteht, muss der Leser sich konzentriert auf die Lektüre einlassen. Das liest sich nicht nebenbei. Hier hilft die Sprachkunst, den Spannungsbogen von der ersten bis zur letzten Seite zu halten: wenn beispielsweise einzelne Worte kunstfertig unter dem literarischen Mikroskop seziert werden, um dann mit Erkenntnisgewinn leicht modifiziert neu belebt zu werden.
Nun wird der eine oder die andere schon ungeduldig fragen, wann kommt der Rezensent endlich zum Stein des Anstoßes - um im Mythos zu bleiben. In der Interpretation des Sisyphos-Mythos geht es Thomas Bartsch um die Darstellung und Analyse einer Krise der Selbst- und Selbstwert-Entwicklung, und zwar nicht nur im individuellen, sondern auch im aktuellen gesellschaftlichen Kontext. Thomas Bartsch stellt seine Deutung, die maßgeblich von der Selbstpsychologie und tiefenpsychologisch orientierten Narzissmus-Konzepten abgeleitet ist, der Philosophie des Absurden von Albert Camus entgegen, die dieser 1942 in seinem Essay „Der Mythos von Sisyphos“ / „Ein Versuch über das Absurde“ vorgelegt hatte. Thomas Bartsch identifiziert in der Camus'schen Interpretation des Sisyphos-Mythos ein destruktives Schein-Selbst, individuell wie auch gesellschaftlich, das im Versuch von frustraner Selbstoptimierung die Außenwelt um den Preis von Realitätsverlust so umdeutet, dass das Unerreichbare erreichbar erscheint. Dafür müssen allerdings unablässig kognitive Strategien wie Verleugnung oder Verdrängung eingesetzt werden, die viel psychische Kraft absorbieren, um die schmerzhafte Konfrontation mit der Realität dauerhaft wegzusperren. Langfristig resultiert häufig ein Zustand, der verschiedentlich als „burn-out“ bezeichnet wird und unter Experten unter dem - medial weniger wirkungsvollen - Begriff „Anpassungsstörung“ bekannt ist. Während Albert Camus Sisyphos als einen Rebellen interpretiert, der sich trotzig und unermüdlich in seinem Menschsein gegen das sinnentleerte Universum und die Absurdität des Seins stellt, zeigt Thomas Bartsch einen alternativen Lösungsweg auf. Wird dieser Weg beschritten, kann die „Kunst der Wende“, die eine innere Wende ist, gelingen, obwohl der mühsam aufwärts gestemmte Felsbrocken immer wieder den Berg hinunterrollt. Und was rät nun T. Bartsch seinem Sisyphos ? Hier darf der Rezensent nicht zu viel verraten; der Essay soll gelesen werden, die eigene Kopfarbeit kann und soll nicht erspart bleiben. Thomas Bartsch führt dabei didaktisch gekonnt in tiefenpsychologische und philosophische Konzepte ein, im letzteren Kontext besonders mit Bezug auf Albert Camus und Søren Kierkegaard. Er verknüpft diese Konzepte mit seinem Erfahrungsschatz aus einer jahrzehntelangen psychotherapeutischen Arbeit. Nur zwei Dinge seien verraten: Auch ein Felsbrocken kann allmählich durch die Reibung zur Kugel geformt werden, der Rollwiderstand gegen die Realität reduziert werden. Und wer schreibt Sisyphos eigentlich vor, wie schnell er jeweils zur widerspenstigen Felskugel hinabsteigt. Vielleicht nutzt er den Weg in das Tal zur kritischen Selbstreflexion mit jeweils neuem Erkenntnisgewinn? Albert Camus schließt mit der rebellischen Aussage: „Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“ * Thomas Bartsch würde wohl eher sagen: „Im selbstreflexiven Weg hinab in das Tal liegt die Chance für die innere Wende. Wenn die Kunst der Wende gelingt, kann Sisyphos ein glücklicher Mensch werden.“
Prof. Dr. med. Jens Wiltfang, Facharzt für Neurologie, Facharzt für Psychiatrie & Psychotherapie, Universitätsmedizin Göttingen
*Albert Camus, „Der Mythos von Sisyphos“, Rowohlt-Taschenbuch Verlag GmbH, Hamburg 1997, S. 128